Demokratiereform: "Parlamente auslosen, Minister direkt wählen"
Archivmeldung vom 04.08.2016
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Freigeschaltet durch André OttBerufspolitiker aus den Parlamenten zu verbannen und stattdessen per Zufall ausgeloste Bürger beraten zu lassen hält der Journalist Timo Rieg für die notwendige große Reform der Demokratie. "Berufspolitiker lösen erkennbar keine Probleme, sie leben vom Angstmachen und Problemeerfinden", sagt Rieg.
In der vom belgischen Historiker David Van Reybrouck ("Against Elections") neu angestoßenen Debatte über die Vorzüge der Auslosung gegenüber Wahlen plädiert Rieg für Bürgerparlamente, die jede Woche neu durch Auslosung besetzt werden. "Das klingt für die meisten Menschen zunächst chaotisch, aber es gibt viele Erfahrungen mit genau diesen kurzfristigen Mandaten", sagt Timo Rieg.
Alle derzeitigen Reformvorschläge, die Volksvertreter auslosen wollen, um dem Volkswillen Ausdruck zu geben, gehen von mehrjährigen Amtszeiten der Los-Bürger aus. "Damit werden aber wesentliche Vorteile der Auslosung wieder zunichte gemacht", so Rieg, der auch Verhaltensbiologe ist.
Das Losverfahren, das am Anfang der athenischen Demokratie stand, sei nicht durch widrige Umstände aus der Politik verschwunden, sondern weil es den Machtinteressen einzelner entgegenstand. "Politiker sind Herrscher, die um Ressourcen kämpfen. Eine Dienstleistung für die Bevölkerung sieht ihr biologisches Programm nicht vor." Deshalb müsse man die Machtinteressen von Politikern strukturell begrenzen.
Auch Reybrouck's "Blaupause für eine auf dem Losverfahren basierende Demokratie" sieht für die meisten Gremien eine dreijährige Amtszeit vor. "Über diese Zeit bilden sich aber die üblichen Meinungsführer heraus und die ausgelosten Bürger vertreten doch wieder Eigeninteressen, weil Politik für einige Jahre zu ihrem Beruf wird", kritisiert Rieg.
Die Vorstellung, es brauche eine lange Zeit, um sich in Probleme einzuarbeiten und kompetent Gesetze beurteilen zu können, sei falsch. Rieg: "In der Los-Demokratie werden Gesetze im Bürgerparlament Schritt für Schritt beraten. Alles, was den ausgelosten Bürgern nicht passt, was unklar ist, was keine Zustimmung findet, muss von den Ministerien neu gemacht werden - dort sitzen weiterhin die Fachleute."
Die politische Entwicklung im Großen und Ganzen sollte durch Direktwahl der Exekutive erfolgen, wie Rieg in seinem Buch "Demokratie für Deutschland" darlegt. Kompetente Fachleute könnten für einzelne Ressorts kandidieren, eine Wiederwahl soll nicht möglich sein, stattdessen könne es am Ende der Amtszeit eine hohe Erfolgsprämie geben. Rieg: "Nur so bemühen sich Politiker wirklich darum, Probleme vom Tisch zu bekommen, anstatt über Jahre und Jahrzehnte von ihnen zu leben."
Die Auslosung als Alternative zur Parlamentswahl hatte Timo Rieg erstmals 2004 in seinem satirischen Buch "Verbannung nach Helgoland - Reich und glücklich ohne Politiker" vorgeschlagen. Es folgten zahlreiche Fachaufsätze und eigene Experimente zur Bürgerbeteiligung. Zuletzt erschien von ihm "Demokratie für Deutschland - Von unwählbaren Parteien und einer echten Alternative".
Quelle: Verlag Berliner Konsortium (ots)