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In Deutschland leben Hunderte unbekannter Insektenarten

Archivmeldung vom 30.06.2020

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 30.06.2020 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt
Bild: SMNS / Andreas Haselböck
Bild: SMNS / Andreas Haselböck

Direkt vor der eigenen Haustür gibt es eine Menge unbekannter Arten. Viele davon sind vom Aussterben bedroht. Doch um sie schützen zu können, müssen wir sie erst einmal kennen.

Um neue Arten zu entdecken, muss man nicht in ferne Länder reisen: Direkt vor der eigenen Haustür gibt es jede Menge Tiere, Pflanzen und Pilze, die der Wissenschaft noch gar nicht bekannt sind. Fachleute sprechen dann von den sogenannten „Dark Taxa“. Das sind Arten, die entweder noch gar keine Namen haben oder deren Einordnung extrem schwierig ist. „Um jedoch effektivere Schutzmaßnahmen zum Beispiel gegen das Insektensterben ergreifen zu können, müssen wir besser verstehen, welche Arten es überhaupt gibt und welche Funktionen sie im Ökosystem haben“, erklärt der Insektenkundler Prof. Dr. Lars Krogmann. Er leitet das Fachgebiet Systematische Entomologie an der Universität Hohenheim und gleichzeitig die entomologische Abteilung des Naturkundemuseums Stuttgart (SMNS). Mit dem Ziel, Licht ins Dunkel zu bringen, startete vor acht Jahren die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte deutsche Barcode-of-Life-Initiative. Sie hat zum Ziel, die Artenvielfalt aller deutschen Tiere, Pilze und Pflanzen anhand ihres DNA-Barcodes, also des genetischen Fingerabdrucks, zu erfassen. Im Juli 2020 geht das Projekt in die dritte Projektphase, bei der zwei bislang eher vernachlässigte Insektengruppen im Fokus stehen sollen. Neu im Aufbau befindet sich auch das Kompetenzzentrum Biodiversität und integrative Taxonomie, eine Gemeinschaftseinrichtung der Universität Hohenheim und dem Naturkundemuseum Stuttgart, getragen von der Initiative „Integrative Taxonomie“ des Landes Baden-Württemberg.

Die Tatsache, dass es in Deutschland noch eine Vielzahl unbekannter Arten gibt, mag zunächst überraschen. „Das liegt meist nicht daran, dass wir sie noch nicht gefunden hätten“, erläutert Prof. Dr. Krogmann, „sondern daran, dass sich vor allem die kleineren Insekten so ähnlich sehen können, dass sie äußerlich nicht unterscheidbar sind.“

Da könne es dann leicht passieren, dass man meine, nur eine Art vor sich zu haben. Dabei seien es aber in Wirklichkeit zwei, drei oder sogar noch mehr verschiedene sogenannte kryptische Arten, die durchaus unterschiedliche ökologische Ansprüche haben können.

Das Problem des Insektensterbens besteht – unabhängig davon, dass es noch unbekannte Arten gibt

Nach Schätzungen warten weltweit ca. 80 Prozent aller Insektenarten darauf, entdeckt und beschrieben zu werden. „Leider werden es jeden Tag weniger“, bedauert Prof. Dr. Krogmann „Viele Arten verschwinden, bevor wir sie überhaupt entdeckt haben. Und auch wenn rein rechnerisch so jedes Jahr neue Arten zum Katalog dazukommen, nimmt die Gesamtzahl aller Insekten doch deutlich ab.“

Deshalb ist es umso wichtiger, die Artenvielfalt unseres Planeten so schnell und umfassend wie möglich zu erfassen, damit effektive Schutzmaßnahmen ergriffen werden können. „Man kann nur schützen, was man kennt“, betont Prof. Dr. Krogmann.

In Deutschland widmet sich seit 2012 das vom BMBF geförderte Projekt German Barcode of Life (GBOL) dieser Aufgabe. Das deutschlandweite Netzwerk aus verschiedenen Naturkundemuseen und anderen Biodiversitätsforschungsinstituten sammelt dazu umfassend und flächendeckend Tier- und Pflanzenarten in ganz Deutschland.

Diese werden mit modernen Methoden untersucht, katalogisiert, wissenschaftlich beschrieben und ihr Erbgut analysiert. Alle Daten werden zunächst in der ersten umfassenden „DNA-Barcoding“-Gendatenbank der Fauna und Flora Deutschlands zusammengeführt und anschließend in eine weltweite Datenbank eingespeist, so dass die Informationen auch anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern für ihre Forschung zur Verfügung stehen.

Insekten sind nicht nur als Bestäuber wichtig

Ein erheblicher Teil der Insektenarten musste bislang jedoch in den bisherigen GBOL-Projekten und letztlich der gesamten Biodiversitätsforschung ausgeschlossen werden, da es in Deutschland keine oder nur sehr unzureichende Fachkenntnisse und Informationen gibt. Dabei machen die Zweiflügler, wie zum Beispiel Mücken und Fliegen, und die Hautflügler, zu denen unter anderem auch Bienen und Wespen gehören, rund zwei Drittel aller Insektenarten in Deutschland aus. Diese Lücke möchte nun das Folgeprojekt GBOLIII schließen.

„Hautflügler spielen eine zentrale Rolle in unseren Ökosystemen“, erläutert Prof. Dr. Krogmann sein Interesse für diese Insektengruppe. „Einerseits als Bestäuber von Blütenpflanzen ‒ daran denkt jeder sofort. Andererseits sorgen sie aber auch als natürliche Gegenspieler anderer Insekten für ein natürliches Gleichgewicht – und das wird leider oft außer Acht gelassen.“

„Zweiflügler sind ökologisch gesehen vielleicht die vielseitigste Insektenordnung. Sie spielen eine entscheidende Rolle als Zersetzer, Bestäuber, Gegenspieler und stellen einen großen Teil der Nahrung von Wirbeltieren“, sagt Dr. Daniel Whitmore, Kurator für Zweiflügler am SMNS. „Unser geringer Kenntnisstand zur Vielfalt und Verbreitung vieler Fliegen- und Mückengruppen verhindert den effektiven Schutz ihrer Habitate und der von ihnen abhängigen Arten.“

Ökologischer Ansatz soll bei Artbestimmung helfen

So sind rund 80 Prozent aller Hautflügler-Arten parasitische Wespen, die ihre eigenen Eier in die Eier anderer Insekten, deren Raupen, Puppen oder in die ausgewachsenen Tiere legen. Während sich aus den Eiern neue Wespen entwickeln, geht der Wirtsorganismus zugrunde. Im biologischen Pflanzenschutz werden parasitische Wespen deswegen oft auch als Nützlinge eingesetzt.

Doch wahrscheinlich sind gerade diese Insekten besonders stark vom Insektensterben betroffen, da sie auf ausreichend große Bestände ihrer Insektenwirte angewiesen sind. „Bislang können wir dies nur vermuten“, so Prof. Dr. Krogmann, „denn es fehlen Daten zum Vorkommen und zur Verbreitung parasitischer Wespen. Zudem sind sie meist nur wenige Millimeter groß, was ihre Artbestimmung enorm erschwert.“

Einer neuer Ansatz soll – neben den genetischen Untersuchungen – hier weiterhelfen, sagt Prof. Dr. Krogmann: „Wir beziehen auch die Lebensweise der Insekten bei ihrer Bestimmung mit ein. Gerade parasitische Arten sind sehr spezialisiert: So können nah verwandte Arten, die äußerlich fast völlig gleich aussehen, ganz unterschiedliche Insektenwirte befallen.“

Neue Artenspezialisten werden gebraucht

Gleichzeitig soll im Rahmen von GBOLIII auch eine neue Generation von Taxonominnen und Taxonomen, den Spezialisten zur Artidentifikation, ausgebildet werden. „Denn davon gibt es leider viel zu wenige“, betont Prof. Dr. Krogmann, „und sie werden mehr denn je gebraucht, wenn wir den aktuellen dramatischen Insektenrückgang verstehen und bekämpfen wollen.“

Weil es in Deutschland an den entsprechenden Expertinnen und Experten mangelt, hat er sich weltweite Unterstützung gesucht. So gibt es z. B. Fachleute in den USA, Australien oder Rumänien, die ihr Wissen an die neuen Hohenheimer Doktoranden und Doktorandinnen weitergeben möchten. Darüber hinaus will das Projekt durch regelmäßige Konferenzen und Zusammenkünfte den Wissensaustausch der Forscherinnen und Forscher untereinander fördern.

Ziel von GBOLIII: Dark Taxa ist es, das Wissen über die deutsche Fauna in den beiden vielfältigsten und bisher am wenigsten untersuchten Gruppen der Zweiflügler und der Hautflügler zu erweitern.

Die Projektleitung hat das Zoologische Forschungsmuseum Alexander Koenig Bonn. Projektpartner sind, neben dem Staatlichen Museum für Naturkunde Stuttgart (SMNS), die Staatlichen Naturwissenschaftlichen Sammlungen Bayerns, die Universität Würzburg und der Entomologische Verein Krefeld.

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert das Projekt mit rund 5,4 Millionen Euro, davon entfallen knapp 1,4 Millionen Euro auf das SMNS. Mit einer Laufzeit von 3,5 Jahren wird das Projekt am 1. Juli 2020 starten.

Quelle: Universität Hohenheim

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