Schlauer als gedacht
Archivmeldung vom 27.04.2011
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Freigeschaltet durch Manuel SchmidtTiere, die höhere kognitive Leistungen erbringen und beispielsweise in der Lage sind, sich weit verstreute Nahrungsquellen zu merken, verfügen in der Regel, bezogen auf ihre Körpergröße, über ein großes Hirnvolumen und leben in komplexen Sozialsystemen. Gute Beispiele für diese Beobachtung sind Elefanten oder Menschenaffen. Während ihrer Suche nach lebensnotwendigen Ressourcen speichern sie die Positionen von verschiedenen, weit entfernten Wasserstellen oder Fruchtbäumen im Gedächtnis und merken sich dabei auch, wann die Ressourcen verfügbar sind. Dies versetzt sie in die Lage, ihre täglichen Wege effizient zu planen und unnötige Wege zu vermeiden.
Forscherinnen aus dem Institut für Zoologie der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover (TiHo) konnten jetzt erstmals zeigen, dass auch Mausmakis – die weltweit kleinsten Primaten –diese räumlichen Planungsfähigkeiten entwickelt haben. Mausmakis erreichen maximal eine Größe von 15 Zentimetern, gehören zu den stammesgeschichtlich ursprünglichen Primaten – den Halbaffen, besitzen ein kleines Gehirn und gehen allein auf Nahrungssuche. Dr. Marine Joly und Professorin Dr. Elke Zimmermann aus dem Institut für Zoologie der TiHo berichten aktuell in dem Fachmagazin Biology Letters (http://rsbl.royalsocietypublishing.org), dass sich Graue Mausmakis im dichten Tropenwald Madagaskars die Positionen verstreut liegender, ergiebiger Futterplätze merken und dieses Wissen bei ihrer Nahrungssuche in der Nacht verwenden können.
Für ihre Untersuchungen haben Joly und Zimmermann Weibchen des Grauen Mausmakis (Microcebus murinus) im nordwestlichen Trockenwald Madagaskars im Ankarafantsika Nationalpark während zweier Trockenzeiten untersucht. Die Nahrungsquellen in den Trockenwaldgebieten Madagaskars sind nur zu bestimmten Zeiten verfügbar. In der nahrungsarmen Trockenzeit überleben die Mausmakis dort nur dank ihrer Fähigkeit, sich von Baumsäften und Sekreten, die Insektenlarven ausscheiden, zu ernähren. Diese Nahrungsressourcen sind immer stationär und deshalb vorhersehbar. Mausmakis sind nachtaktiv und leben im dichten Gebüsch und Gestrüpp des Trockenwaldes. Um die Nahrungssuchstrategien dieser nachtaktiven Halbaffen zu erforschen, haben die Forscherinnen GPS-basierte radiotelemetrische Methoden eingesetzt und sieben Mausmakis mit einem Miniatursender versehen. Sie konnten so die geographische Position der Tiere und der Futterstellen, die Art der Futterstelle sowie das Verhalten der Tiere kontinuierlich dokumentieren.
Die zurückgelegten nächtlichen Wanderstrecken jedes Tieres haben die Wissenschaftlerinnen mit dem Change Point Test analysiert, einem neuen mathematischen Verfahren. So konnten sie beispielsweise die Effektivität bei der Nahrungssuche modellieren oder ausschließen, dass die Mausmakis die Futterstellen zufällig gefunden haben. Die TiHo-Forscherinnen konnten so belegen, dass Mausmakis sich verstreut im Raum liegende ergiebige Nahrungsquellen merken und diese nach dem Verlassen des Schlafplatzes zielgerichtet aufsuchen können. Diese kognitiven Fähigkeiten wurden bisher ausschließlich Tieren mit großen Gehirnen und komplexem Sozialsystem zugeschrieben, wie etwa Elefanten und Menschenaffen.
„Mausmakis haben sich damit wieder einmal als ein hervorragendes Modellsystem für die vergleichende experimentelle Verhaltens- und Evolutionsforschung erwiesen, zum Beispiel zur Erforschung von ökologischer Intelligenz und individuellen Entscheidungsprozessen. Wir waren überrascht bei ihnen dieselben räumlichen Planungsfähigkeiten zu entdecken wie sie für Elefanten, Menschenaffen und andere höhere Primatenarten bereits beschrieben sind. Mausmakis eröffnen uns damit ein neues Bild der ökologischen Intelligenzleistungen unserer frühen Primatenvorfahren. Wir vermuten, dass ökologische Zwänge unabhängig von der Hirngröße und der Sozialität die Evolution der ökologischen Intelligenz von Tieren beeinflusst haben“, sagt Joly. Und Zimmermann ergänzt: „Die Evolution des planvollen Handelns beim Umgang mit ökologischen Ressourcen ist anscheinend nicht, wie bisher angenommen, eine Folge von Gehirnvolumen und einem hoch entwickelten Sozialsystem, sondern eine Anpassung an ökologische Probleme, wie zum Beispiels die effiziente Nahrungssuche. Ökologische und soziale Intelligenz und die zu Grunde liegenden Verarbeitungssysteme im Gehirn sind demzufolge in der Evolution unabhängig voneinander entstanden. Mausmakis als ursprüngliche Primaten vermitteln uns damit interessante neue Einblicke in die biologischen Wurzeln unserer eigenen kognitiven Fähigkeiten“.
Quelle: Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover