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WDR/SZ-Recherche: Brüchige Reaktoren?

Archivmeldung vom 24.11.2016

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 24.11.2016 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt
Kernkraftwerk Doel
Kernkraftwerk Doel

Foto: Wwuyts
Lizenz: GFDL
Die Originaldatei ist hier zu finden.

In zahlreichen Atomkraftwerken in Europa beeinträchtigen übermäßige Alterung und Materialfehler offenbar die Stabilität der Reaktordruckbehälter. Dafür spricht, dass nach Recherchen von WDR und Süddeutscher Zeitung in mindestens 18 aktiven Atomreaktoren in Tschechien, Belgien, Frankreich, Finnland und der Slowakei das Notkühlwasser auf bis zu 60 Grad Celsius vorgeheizt wird. Dadurch soll offenbar das Risiko verringert werden, dass der stählerne Reaktordruckbehälter reißt, wenn er bei einem Störfall mit zu kaltem Wasser gekühlt wird. Die Folge eines solchen Bruchs kann eine Kernschmelze sein.

"Je länger Stahl mit Neutronen bestrahlt wird, desto spröder wird er", sagt Michael Sailer, Atomexperte beim Öko-Institut und lange Jahre Mitglied der Reaktorsicherheitskommission. In vielen Reaktoren sei diese Versprödung allerdings schneller vorangeschritten als ursprünglich berechnet. Das Notkühlwasser werde in diesen Reaktoren vorgeheizt, "um die Spannungen bei einer Notkühlung zu begrenzen, weil der Reaktordruckbehälter nicht mehr so stabil ist, wie er sein sollte", sagt Wolfgang Renneberg, bis 2009 Leiter der Abteilung Reaktorsicherheit im Bundesumweltministerium.

Auch Materialwissenschaftlern bereitet diese Praxis große Sorge. "Das Vorwärmen bedeutet: entweder sind schon Risse da, die relativ groß sind. Oder man ist unsicher, ob die Versprödung nicht vielleicht doch größer ist, als bisher angenommen", erklärt Sicherheitsexpertin Ilse Tweer, Mitglied des Atomforscher-Netzwerkes INRAG.

Im Februar dieses Jahres war bekannt geworden, dass in dem belgischen Reaktor Doel-3 wegen zahlreicher Risse im Reaktorbehälter das Notkühlwasser vorgeheizt wird. WDR und SZ liegen nun Dokumente vor, wonach in den beiden "Schwester-Reaktoren" Doel-1 und Doel-2 bereits 1992 damit begonnen wurde, das gleiche Verfahren anzuwenden. In Tschechien bestätigte die Betreiberfirma CEZ, dass das Notkühlwasser in allen sechs Reaktoren des Landes bis heute vorgeheizt wird - in Temelin sogar seit Inbetriebnahme im Jahr 2000, im AKW Dukovany seit 1992. "Das ist keine Sicherheitsmaßnahme", kommentiert ein Sprecher der Betreiberfirma CEZ, "sondern Ergebnis einer ständigen Verbesserung." Ziel sei lediglich, die Auswirkungen eines möglichen Einsatzes der Notkühlung "auf die Lebenszeit des Reaktordruckbehälters zu verringern".

Die finnische Betreiberfirma "Fortum" bestätigte ebenfalls die Recherchen von WDR und SZ, wonach in den beiden Reaktoren Loviisa-1 und Loviisa-2 das Notkühlwasser bereits seit 1990 vorgeheizt wird. Als Grund nennt die Firma, im Falle eines Unfalls wolle man Temperaturschocks vermeiden, vor allem im Reaktordruckbehälter. Auch für die Reaktoren in Frankreich - wo u.a. das seit langem umstrittene Atomkraftwerk Fessenheim an der deutsch-französischen Grenze betroffen ist - und der Slowakei liegen Dokumente über das Vorheizen des Notkühlwassers vor. Die Betreiber reagierten jedoch auf die Anfragen von WDR und SZ nicht. In deutschen Atomkraftwerken wird diese Praxis derzeit nicht angewandt.

Im Normalfall beträgt die Temperatur des Notkühlwassers fünf bis zehn Grad. "Die Vorwärmung von Notkühlwasser bedeutet einen Abbau von wichtigen Sicherheitsreserven", meint der frühere Atomaufseher Renneberg: "Wenn man nicht mehr sicher ist, dass der Reaktordruckbehälter das normal temperierte Notkühlwasser aushält, dann ist das allein schon ein Alarmsignal." Renneberg weist außerdem darauf hin, dass durch dieses Verfahren neue Risiken entstehen - etwa, wenn die Heizung ausfällt oder nicht ausreichend vorgewärmtes Wasser zur Verfügung steht. "Bei solch einer Maßnahme sträubt sich wirklich alles in mir. Das geht an die Substanz", so Renneberg.

Das Vorheizen des Kühlwassers ändert auch nichts an der beeinträchtigten Stabilität des Reaktordruckbehälters selbst. "Damit können sich die Betreiber ein paar Jahre weiteren Betrieb kaufen", erklärt Atomexperte Michael Sailer gegenüber WDR und SZ, "die Neutronenversprödung wird damit aber nicht aufgehalten. Egal, was man macht, man gerät immer näher an die Grenzen des Materials."

Der ehemalige GRS-Mitarbeiter und Atomsicherheitsexperte Manfred Mertins ist überzeugt, dass von den Reaktoren, in denen das Notkühlwasser vorgeheizt wird, ein erhöhtes Risiko ausgeht. Er plädiert deshalb dafür, sie abzuschalten: "Aus sicherheitstechnischen Gesichtspunkten kann ich so eine Anlage nicht betreiben", so Mertins. Die genaue Zahl der Reaktoren, in denen dieses Verfahren derzeit angewandt wird, ist nicht öffentlich bekannt. Weder die Internationale Atomenergie Behörde, IAEA, noch die nationalen Aufsichtsbehörden haben bislang Angaben dazu veröffentlicht.

Quelle: WDR Westdeutscher Rundfunk (ots)

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