Göttinger Forscher: Bäume reagieren mit genetischer Anpassung auf extrem hohe Radioaktivität
Archivmeldung vom 20.04.2011
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Freigeschaltet durch Manuel SchmidtDie Reaktorkatastrophe von Tschernobyl vor 25 Jahren hat die Umweltbedingungen in der Umgebung schlagartig geändert. Während das Gebiet 30 Kilometer rund um das Atomkraftwerk heute eine weitgehend menschenleere Sperrzone ist, sind die in diesem Gebiet um den Reaktor von Tschernobyl wachsenden Bäume einer enorm hohen Strahlenbelastung ausgesetzt. Forstgenetiker der Universität Göttingen haben in Zusammenarbeit mit Kollegen aus der Ukraine untersucht, wie sich die Folgen des Reaktorunfalls auf die Kiefern auswirken, die nur wenige hundert Meter vom explodierten Kernkraftwerk wachsen.
Dabei fanden die Wissenschaftler heraus, dass die Bäume unterschiedlich auf hohe Strahlendosen reagieren; einige Kiefern wurden krank, während andere sich offenbar anpassen. Im Zentrum des Projekts, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wurde, stehen die genetischen Veränderungen der Bäume als Reaktionen auf die hohe radioaktive Strahlung. Erste Forschungsergebnisse wurden in der Onlineausgabe der Zeitschrift Environmental Pollution veröffentlicht.
Die Forscher der Abteilung Forstgenetik der Fakultät für Forstwissenschaften und Waldökologie untersuchten zum einen Kiefern, die bereits lange vor dem Unfall in der Nähe des Reaktors gepflanzt wurden und daher direkt nach der Reaktorkatastrophe einer extrem hohen akuten Strahlung ausgesetzt waren. Zum anderen wurden Bäume analysiert, die nach dem Unfall in unmittelbarer Umgebung des Reaktors auf extrem verstrahlten Böden gepflanzt wurden. Als Vergleichsbäume dienten jeweils gleichaltrige Kiefern gleichen Ursprungs, die in unbelasteten Gebieten der Ukraine wachsen. Wie die Wissenschaftler herausfanden, wachsen die Kiefern um Tschernobyl langsamer und zeigen vielfältige Abweichungen vom normalen Wuchs eines Nadelbaums wie beispielsweise Nadelverfärbungen oder geänderte Verzweigungsmuster. Auffällig ist dabei, dass die Bäume unterschiedlich auf die Strahlung reagieren. Einige Kiefern zeigen keine oder nur geringe Krankheitssymptome, bei anderen treten diese gehäuft auf. Außerdem können sich viele Pflanzen nicht anpassen und sterben ab.
Bei den Kiefern rund um den Reaktor konnten die Forstgenetiker erhöhte Mutationsraten nachweisen. Aber auch andere genetische Prozesse veränderten sich durch die hohe Radioaktivität. So wurde bei Genen, denen eine Bedeutung für Anpassungsprozesse an allgemeinen Stress und an erhöhte Strahlung zugeordnet wird, eine erhöhte Aktivität beobachtet. Diese kann für die Pflanzenzellen einen verbesserten Schutz bewirken. Zudem fanden die Forscher heraus, dass sich die strahlungsempfindliche Erbsubstanz (DNA) im Zellkern bis zu einem gewissen Grad selbst vor Radioaktivität schützen kann. „Für uns war es sehr überraschend, dass wir an vielen Regionen des großen Genoms der Kiefer Veränderungen beobachten konnten, die offenbar als Anpassung auf die erhöhte Strahlung zu sehen sind“, so der Leiter des Forschungsprojekts, Prof. Dr. Reiner Finkeldey.
Die Untersuchungen ergaben auffällige Unterschiede in den genetischen Strukturen der untersuchten Kiefernbestände. Je nach ihrer genetischen Konstitution sind die Bäume unterschiedlich gut an erhöhte Strahlung angepasst. Die plötzliche Umweltveränderung durch die Explosion des Reaktors setzt demnach Ausleseprozesse in Gang, die auch bei so langlebigen Organismen wie Waldbäumen eine verbesserte Anpassung bewirken.
Quelle: Georg-August-Universität Göttingen