Rätselhafte Unterwasserwelt: Großteil der Artenvielfalt bislang noch unentdeckt
Archivmeldung vom 09.02.2022
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Freigeschaltet durch Anja SchmittForscher haben einen neuen Einblick in die biologische Vielfalt der Weltozeane gewonnen: Zwei Drittel der Meereslebewesen seien uns Menschen gänzlich unbekannt, die Mehrheit der noch nicht entdeckten Arten lebe in der Tiefsee. Dies berichtet das russische online Magazin „SNA News“ .
Weiter ist auf deren deutschen Webseite dazu folgendes zu lesen: "Nachdem Carl Linnaeus Mitte des 18. Jahrhunderts die Grundlagen des biologischen Systems gelegt hatte, versuchen Wissenschaftler herauszufinden, wie viele Arten auf der Erde leben. Wie groß ihre Vielfalt ist, wie sie sich innerhalb der geologischen Geschichte änderte und was jetzt passiert – das sind die grundlegenden Fragen, auf die eine Antwort erst gefunden werden soll.
Der Wissenschaft sind heute etwas mehr als 1,5 Millionen Arten bekannt, allerdings geben Experten zu, dass es sich dabei nur um einen Teil der realen biologischen Vielfalt handelt. Hin und wieder werden Einschätzungen abgegeben, die sich abhängig von der Methode und der Berechnung massiv unterscheiden – von drei bis 100 Millionen. Einige Forscher sind der Meinung, dass allein die Pilze mehr als fünf Millionen Arten haben. Dabei wurden bisher nur rund 100.000 Arten beschrieben.
Die präziseste Einschätzung kam 2011 von Wissenschaftlern aus den USA, Großbritannien und Kanada. Nach ihren Angaben leben auf der Erde rund 8,7 Millionen Arten, von denen 7,7 Millionen Tiere sind. Rund 86 Prozent der Landlebewesen und 91 Prozent der Meereslebewesen sind bislang noch nicht entdeckt. Bei der Berechnung beriefen sich die Wissenschaftler auf die Zahl der bekannten Taxone und analysierten nur Eukaryoten – Lebewesen, deren Zellen einen Kern haben. Bakterien und Archaikum wurden nicht berechnet.
An Land und im Meer
Die überwiegende Mehrheit der bekannten Arten sind Landbewohner. Der Meeresboden ist für die Biologen Terra Incognita. Das betrifft insbesondere die Unterwasserwelten in einer Tiefe von vier bis sechs Kilometern, die rund 40 Prozent der Ozeanfläche ausmachen. Nicht nur jede Meeresexpedition, sondern fast jede Probe vom Meeresboden bringt neue Entdeckungen.
Geologen aus der Schweiz, Norwegen, Frankreich, den USA, Deutschland, Spanien, Großbritannien und Polen nutzten für die Einschätzung der biologischen Vielfalt eine neue Methode zur Analyse des Genmaterials der Umwelt (eDNA). Sie erstellten eine umfassende eDNA-Sequenzierung – fast 1700 Muster – aus Tiefseeablagerungen aller Ozeanbecken, die bei 15 Expeditionen in die Tiefen der Meere gesammelt wurden. Etwa zwei Millionen DNA-Sequenzen konnten so gewonnen werden.
Die Forscher verglichen die neuen Daten mit bestehenden Angaben über Plankton-DNA aus einem belichteten und einem dunklen Bereich des Ozeans sowie mit allen Muster-Sequenzen der bekannten Eukaryoten. Bei der Studie stützte man sich vor allem auf die Plankton-DNA, die nach der Erdumkreisung mit einem Forschungsschiff zwischen 2009 und 2013 erstellt wurde. Damals wurden 35.000 Muster von 210 Stellen in allen Weltmeeren gesammelt. Zudem stützte man sich auf die Ergebnisse der Expedition “Malaspina” im Jahr 2010, an der mehr als 400 Wissenschaftler mit zwei Forschungsschiffen teilnahmen.
Das half bei der Einordnung des Genmaterials der Lebewesen, die unmittelbar auf dem Meeresboden leben, und der Bewohner der Wasserschichten. Fast zwei Drittel der eDNA der Bodenfauna wurden nicht identifiziert. In den meisten Fällen konnten die Wissenschaftler nicht einmal feststellen, zu welcher Tiergruppe die jeweilige Sequenz gehört.
“Das zeugt von einer ernsthaften Wissenslücke bei der biologischen Vielfalt der Meere”, sagt Ian Pavlovsky, Professor an der Universität Genf.
Es stellte sich heraus, dass die Vielfalt der Kleinstlebewesen auf dem Ozeanboden zumindest um das Dreifache größer als die in den oberen Wasserschichten ist. Die ganze Vielfalt ist vor allem mit unbekannten taxonomischen Gruppen vertreten. Aufgrund indirekter Daten, zum Beispiel die Auswahl der Plankton-Arten, die zur Ernährungskette gehören, vermuten Wissenschaftler, dass es sich dabei nicht nur um kleinste Lebewesen wie Diatomeen und Dinoflagellaten, sondern auch größere Arten wie Würmer und kleine Mollusken handeln könnte.
„Die angewandte Methode eignet sich nur für eine allgemeine Einschätzung der biologischen Vielfalt. Die Kenntnisse über die Artenvielfalt der Lebewesen in großer Tiefe sind sehr bescheiden. Nach unseren Vorstellungen umfassen sie zehn bis 20 Prozent der Arten, vielleicht noch weniger“, so der Biologe Andrej Gebruk vom Institut für Ozeanforschung “P. Schirschow".
Auch die oberen Wasserschichten sind dem russischen Biologen zufolge kaum erforscht. Das hängt in erster Linie mit der Größe des Raumes zusammen, der für das Leben im Weltozean geeignet ist. Deshalb sollten die Angaben über die dreifach höhere Zahl der benthischen, auf dem Meeresgrund lebenden Arten gegenüber den pelagischen Arten aus den Wasserschichten mit Vorsicht bewertet werden.
Am dichtesten bewohnte Gebiete der Erde
Traditionell gelten die Ökosysteme der tropischen Wälder und die Korallenriffe als die am dichtesten „besiedelten“ Gebiete der Erde. Neuen Angaben zufolge können die ozeanischen Tiefseen Konkurrenz machen. In den tropischen Ländern leben rund eine Million Tierarten, etwa ebenso viele im Ökosystem der Korallenriffe. Auf dem Ozeanboden sei auch so eine Vielfalt zu erwarten, so Gebruk.
„Von außen sieht der Meeresboden in einer Tiefe von vier bis fünf Kilometern leblos aus, doch dieser Eindruck täuscht“, so der Biologe.
„Die Vielfalt des Lebens ist dort immens, sie ist einfach nicht zu sehen, ist sehr klein. Die Größe der Lebewesen dort ist weniger als ein Millimeter, doch die Artenvielfalt ist einfach unglaublich“.
Ein wichtiges Kettenglied des Kohlenstoffzyklus
Kenntnisse über die Gesamtzahl der Tiefsee-Arten sind äußerst wichtig – nicht nur, um das Funktionieren der Nahrungsketten der Ozeane zu verstehen, sondern auch um die Parameter des globalen geochemischen Kohlenstoffzyklus präziser einzuschätzen. Die benthische Fauna ernährt sich von auf den Meeresgrund sinkendem organischem Stoff, in dem pelagisches Plankton dominiert. Der verarbeitete organische Stoff gelingt in Ablagerungen und verwandelt sich mit der Zeit in Gesteine.
Ein einheitliches Profil der biologischen Vielfalt der Ozeanoberfläche bis zum Ozeanboden ermöglicht völlig neue Aufschlüsse vom Potenzial des Ökosystems auf dem Meeresboden als wichtiges Kettenglied des Kohlenstoffzyklus zwischen Ozean, Atmosphäre und dem inneren Aufbau der Erde.
Eine weitere interessante Schlussfolgerung der Forscher: Eine wichtige Rolle im Kohlenstoffkreislauf spielen biologische Gemeinschaften der Polarmeere. Die Analyse der eDNA des Ozeanbodens und des Genmaterials von Plankton zeigte, dass die Ökosysteme dieser Regionen aus der Atmosphäre CO2 abzwacken und dieses im Sediment speichern können. Das bedeutet, dass die Klima-Modelle präzisiert werden müssen.
Forscher rechnen damit, dass die von ihnen erprobte Methode nun zur Einschätzung der biologischen Vielfalt der alten Ozeane nach eDNA, die in tiefen Ablagerungen enthalten ist, genutzt werden kann. Zudem könnten paläoklimatische Rekonstruktionen präziser erstellt werden."
Vladyslav Strekopytow
Quelle: SNA News (Deutschland)