Domino im Urwald
Archivmeldung vom 08.05.2014
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 08.05.2014 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Manuel SchmidtDie Abholzung eines der letzten europäischen Urwälder hat weitreichende Konsequenzen für die darin lebenden Pflanzen und die mit ihnen vergemeinschafteten Tierarten – das belegen Marburger Biologinnen und Biologen sowie ihre polnischen Kooperationspartner anhand einer großangelegten Studie, die in der Onlineausgabe von „Nature Communications“ erscheint. Das Autorenteam berücksichtigt dabei unterschiedliche Wechselwirkungen der Pflanzen: mit Bestäubern einerseits, mit Samenausbreitern andererseits. Die Auswirkungen auf diese Interaktionspartner sind miteinander gekoppelt: Kennt man die Folgen für die Bestäuber, so lassen sich auch die Konsequenzen für die Samenausbreiter vorhersagen.
Pflanzen und Tiere eines Lebensraumes treten in vielfältige Beziehungen zueinander. „Beispielsweise sind viele Pflanzen auf die Bestäubung ihrer Blüten durch Insekten angewiesen und benötigen zusätzlich Vögel oder Säugetiere, die die Pflanzensamen ausbreiten“, führt Erstautor Jörg Albrecht aus. „In diesem Fall fördern sich Bestäuber und Samenausbreiter indirekt gegenseitig, weil sie die Fortpflanzungs- und Ausbreitungsfähigkeit der gemeinsam genutzten Nahrungspflanzen erhöhen.“ Veränderungen des Lebensraumes beeinflussen dieses Zusammenleben; die meisten Studien haben sich jedoch bislang auf nur einen einzigen Typus von Interaktion konzentriert: Zum Beispiel nur auf die Beziehung zwischen Räuber und Beute, oder auf die Wechselwirkung von Pflanzen mit ihren Bestäubern. „Dabei sind dieselben Arten oft an mehreren Prozessen beteiligt“, wie die Autoren betonen.
Die Wissenschaftler um Juniorprofessorin Dr. Nina Farwig und Professor Dr. Roland Brandl von der Philipps-Universität wollten wissen, ob die Naturzerstörung in gleicher Weise auf mehrere Interaktions-Netzwerke einwirkt. Als Untersuchungsgebiet wählten sie Europas letzten Rest ursprünglichen Auwalds: Białowieża im Osten Polens. Während des letzten Jahrhunderts fielen über 80 Prozent des polnischen Teils dieses Urwaldes kommerziellem Holzeinschlag zum Opfer. „Derzeit zeigen nur 45 Quadratkilometer des Waldes noch immer eine natürliche Dynamik, die für Urwälder typisch ist“, führen die Verfasser aus. Für ihre zweijährige Feldstudie nahmen sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zehn Pflanzenarten vor, deren Blüten und Früchte einer Vielzahl wildlebender Tierarten als Nahrungsgrundlage dienen – unter anderem Himbeere, Traubenkirsche und die wilden Formen der Roten und Schwarzen Johannisbeere. Die Forscher dokumentierten 5.784 Interaktionen mit 294 Bestäuberarten (hauptsächlich Insekten wie Bienen, Schmetterlinge und Käfer) und 5.935 Interaktionen mit 34 samenausbreitenden Arten (ganz überwiegend Vögel und Säugetiere); das Team verzeichnete die Anzahl der Partner sowie die Häufigkeit von Interaktionen.
Das Ergebnis: Waldnutzung erhöht die Anzahl der Partner bei der Bestäubung um 18 Prozent. „Dies beruht womöglich auf der vermehrten Verfügbarkeit von offenen Lebensräumen“, vermuten die Autoren. Bei der Samenausbreitung hingegen sinkt die Partnerzahl um 27 Prozent und die Frequenz der Wechselwirkungen um 50 Prozent; „dieser erhebliche Rückgang kann zumindest teilweise einem Verlust spezialisierter Arten zugeschrieben werden, die auf alte Waldbestände angewiesen sind“, erklären die Wissenschaftler.
Mehr noch: Obwohl die Waldnutzung ungleiche Folgen für Bestäuber und Samenausbreiter hat, fanden die Forscher starke Hinweise darauf, dass die Reaktionen von Bestäubern und Samenausbreitern gekoppelt sind: „Pflanzenarten, die in genutzten Wäldern viele Samenausbreiter verloren, waren auch stärker von einem Verlust an Bestäubern betroffen“, erläutert Albrecht. Dabei reiche es aus, dass die Häufigkeit einer einzigen Pflanzenart sich ändert, um andere Arten zu beeinflussen, die mit ihr in Beziehung stehen – eine Art Dominoeffekt. „Unsere Ergebnisse sind alarmierend“, schreibt das Autorenteam: „Sie lassen den Schluss zu, dass die Vernichtung von Urwald zum parallelen Verlust mehrerer Leistungen dieses Ökosystems führt.“
Dr. Nina Farwig hat seit 2008 die Robert-Bosch-Juniorprofessur für „Nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen“ an der Philipps-Universität inne. Die aktuelle Studie entstand im Rahmen der Dissertation von Jörg Albrecht im Fachgebiet Naturschutzökologie unter Betreuung von Nina Farwig. Das Projekt wurde im Rahmen eines Promotionsstipendiums der Deutschen Bundesstiftung Umwelt an Jörg Albrecht und durch Mittel der Robert-Bosch-Stiftung an Nina Farwig finanziell gefördert. Roland Brandl leitet die Arbeitsgruppe „Allgemeine Ökologie und Tierökologie“ der Philipps-Universität.
Quelle: Philipps-Universität Marburg (idw)