Massenwanderung des Distelfalters - ein seltenes Phänomen
Archivmeldung vom 22.05.2009
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 22.05.2009 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittSeit Tagen häufen sich beim Tagfalter-Monitoring Deutschland und an anderen Stellen Meldungen zu außergewöhnlich zahlreichen Beobachtungen von Distelfaltern. Zuerst in Südwestdeutschland, später auch im Osten und Norden des Landes wurde dieses Massenphänomen wahrgenommen.
Der Distelfalter (mit wissenschaftlichem Namen Vanessa cardui) ist ein
Wanderfalter, der jedes Jahr erneut in Deutschland einfliegt. Die
hiesigen Winter sind zu streng, als dass Raupen, Puppen oder erwachsene
Tiere überleben könnten. Die Tatsache, dass die Tiere - aus Nordafrika
und dem Mittelmeerraum kommend - die Alpen überqueren, um zu uns zu
gelangen, weist sie als exzellente und ausdauernde Flieger aus. Ein
Teil von ihnen zieht sogar bis nach Nordschweden und Finnland. Auch
Großbritannien und Irland werden problemlos erreicht.
Im Jahr 2008 gab es kaum Distelfalterbeobachtungen in Deutschland (http://www.tagfalter-monitoring.de/).
Ganz anders hingegen die aktuelle Situation in diesem Jahr: An vielen
Orten in Deutschland und auch Frankreich wurden Ströme von Faltern
beobachtet, die in schnellem, gerichtetem Flug nach Norden oder Osten
unterwegs waren. Beobachter fühlen sich an das Verhalten von Zugvögeln
erinnert; eine Kommunikation zwischen den Tieren wie in einem
Vogelschwarm gibt es dabei allerdings nicht.
Bei science4you.org, wo neben der Datenbank des Tagfalter-Monitorings
Deutschland auch das Online-Meldeportal der Deutschen
Forschungszentrale für Schmetterlingswanderungen (DFZS) geführt wird,
sind in diesem Jahr schon 300 Sichtungen mit jeweils mehr als 25
Distelfaltern erfasst worden. Bei 98 Meldungen wurden sogar jeweils
mehr als 100 Falter beobachtet und immerhin 15 Meldungen beziehen sich
auf mehr als 1000 Tiere an einem Ort innerhalb eines Tages. Alleine 11
der letzt genannten Meldungen stammen vom 17.5.2009 aus
Baden-Württemberg, Bayern und Thüringen.
Die ersten Anzeichen für die anstehende Einwanderungswelle wurden
bereits Ende März bis Mitte April diesen Jahres aus Spanien und
Jordanien vermeldet. Die ersten Distelfalter kamen am 7.5.2009 in
Bayern und Baden-Württemberg an, ab dem 10.5. auch in größeren
Individuenzahlen. Hessen wurde um den 13.5. erreicht, das Saarland und
Rheinland-Pfalz 1-2 Tage später. Am 17.5. dann die ersten größeren
Falterzahlen aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sowie die
Beobachtung größerer Wanderzüge in Süddeutschland und Österreich. Am
18.5. erreichte der Strom Niedersachsen und am 19.5.
Nordrhein-Westfalen. Von diesem Datum stammt auch die erste Meldung aus
Stralsund an der Ostsee.
Was bedeutet eine solche Hochgeschwindigkeits-Invasion einer Art auf
breiter Front für die Artenvielfalt und die Situation der
Schmetterlinge in Mitteleuropa? Der Distelfalter gilt als
Langstreckenwanderer schlechthin und ist aufgrund dieser hohen
Mobilität nahezu überall auf der Welt zu finden. So faszinierend das
Phänomen der Massenwanderungen beim Distelfalter und weiteren Arten
auch ist, gibt es dennoch viele unbeantwortete Fragen. Dies soll sich
ändern und gerade Laien können sich hier aktiv an der Forschung
beteiligen. Über das Wanderfalter-Monitoring von science4you (http://www.science4you.org/)
kann jedermann beobachtete Distelfalter melden. Ergänzende Angaben zum
Erhaltungszustand und der Wanderrichtung der Tiere sind sehr nützlich,
um Verhaltensmuster besser zu verstehen und Rückschlüsse auf die genaue
Herkunft der Falter zu ziehen. Daraus ergeben sich Aussagen zu
Klimawirkungen und zum Zustand der Lebensräume der Raupen südlich der
Alpen, nicht aber zu unseren heimischen Habitaten.
Betrachtet man ausschließlich die Situation in Deutschland, so gilt das
Jahr 2008 für die große Mehrzahl der Arten als relativ schlechtes
Falterjahr und normalerweise häufige Spezies wie der Kleine Fuchs, der
Admiral oder eben auch der Distelfalter waren kaum anzutreffen. Die
Schmetterlingsarmut löste bei den Freiwilligen, die sich am
Tagfalter-Monitoring Deutschland beteiligen, aber auch bei vielen Laien
Besorgnis aus. Als eine wesentliche Ursache dafür wurde das extrem
trockene Frühjahr 2008 ausgemacht. Die Raupen fanden einfach keine
Nahrung und konnten sich nicht gut entwickeln. Je spezifischer dabei
die Ansprüche einer Art an ihren Lebensraum sind, speziell an die
Raupenfraß-Pflanzen, desto stärker können sie durch Klima- oder
Landnutzungswandel in ihrem Bestand gefährdet sein. Ein Übriges taten
die vorausgegangenen Winter, in denen richtige Kälteperioden fehlten.
Zahlreiche Arten überwintern als Puppen und benötigen kalte, frostige
Perioden. Ist es zu warm und feucht, so werden die Puppen anfällig für
Parasiten oder verschimmeln schlicht.
Somit erklären sich die für Insekten typischen, meist zyklischen
Entwicklungen von "schlechten" Jahren im Wechsel mit individuenreichen
Vorkommen. Mit Projekten wie dem Tagfalter-Monitoring ist es möglich,
den Trend der Bestandsentwicklung über Jahre und Jahrzehnte hinweg zu
verfolgen. Am Ende lässt sich dokumentieren, ob das Auftreten einzelner
Arten noch im Rahmen der "normalen" Fluktuation liegt oder ob es einen
langfristigen Trend zur Abnahme oder auch Zunahme einer Art gibt.
Koordiniert wird dieses Langzeitbeobachtungsprojekt vom
Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) und der Gesellschaft für
Schmetterlingsschutz (GfS).
Spannend ist es für die Beobachter in diesem Jahr, die weitere
Entwicklung des Distelfalters, aber auch anderer Arten, mitzuverfolgen:
Werden sich die geschwächten Bestände des Kleinen Fuchses wieder
erholen oder registrieren wir gerade einen generellen Rückgang dieser
Art, die doch eigentlich in jedem Garten anzutreffen war? Konnten Arten
wie der Trauermantel, der es kühl und feucht bevorzugt, von dem letzten
kalten Winter profitieren? Werden sich die Nachfahren der
eingewanderten Distelfalter bei uns gut entwickeln können und werden
wir dann zum Ende des Sommers wieder einen Massenflug dieser nächsten
Generation zurück Richtung Süden beobachten?
Antworten auf diese Fragen werden die Zahlen geben, die seit April von Schmetterlingsfreunden auch in diesem Jahr bundesweit erhoben werden. Für sie heißt es nun wieder einmal pro Woche: Raus auf die festgelegten Beobachtungsstrecken und Schmetterlinge zählen.
Quelle: Informationsdienst Wissenschaft e.V.