Steinbockhörner und altes Heu verraten, wie Grasland auf den Klimawandel reagiert
Archivmeldung vom 10.12.2009
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittWie reagieren Pflanzenökosysteme langfristig auf die steigende Konzentration des Treibhausgases CO2 in der Atmosphäre? Diese grundlegende Frage stellt sich vor dem Hintergrund des Klimawandels immer drängender. Forscher vom Lehrstuhl für Gründlandlehre der Technischen Universität München (TUM) haben sie nun - weltweit zum ersten Mal - für Grasland untersucht. Antworten fanden die Wissenschaftler an ungewohnter Stelle: in Steinbockhörnern aus der Schweiz und in 150 Jahre altem Heu aus England.
Forscher, die die Reaktion von Bäumen auf die steigende CO2-Konzentration in der Luft untersuchen möchten, haben es leicht: Sie müssen nur einen Bohrkern aus dem Stamm nehmen, denn Bäume speichern den aufgenommenen Kohlenstoff im Holz. Eine hundertjährige Eiche bildet also in ihren Jahresringen ab, wie sie über ein Jahrhundert hinweg mit dem beginnenden Klimawandel umgegangen ist. "Die Graslandvegetation, an der wir arbeiten, wird hingegen schnell gefressen oder stirbt in wenigen Monaten ab und zersetzt sich" erklärt Prof. Hans Schnyder, der am Wissenschaftszentrum Weihenstephan der TUM im Bereich Grünland forscht. Trotzdem wollte der Schweizer Wissenschaftler herausfinden, wie sparsam Grasland mit Wasser haushaltet, wenn es wärmer wird und die Kohlenstoffdioxidkonzentration in der Luft steigt.
Dazu muss man wissen: Jede Pflanze nimmt CO2 aus der Luft auf. Gleichzeitig verdunstet sie Wasser, zur Kühlung der sonnenbestrahlten Blätter. Beides passiert über die Stomata, winzige Poren in den Blättern, deren Öffnungsweite die Pflanze regulieren kann. Bei zunehmender Trockenheit schließt sie ihre Stomata, um den Wasserverlust zu mindern, nimmt damit aber auch weniger CO2 auf. Aus Laborexperimenten weiß man, dass bei künstlich erhöhter Außenkonzentration von CO2 die Aufnahmefähigkeit für das Gas bei gleicher Öffnungsweite der Stomata kurzfristig steigt. Um aber zu ermitteln, wie sich die Wassernutzungseffizienz von Graslandvegetation - also das Mengenverhältnis von aufgenommenem CO2 zu abgegebenem Wasser - im Laufe des letzten Jahrhunderts wirklich entwickelt hat, musste Prof. Schnyder fürs Grasland ähnlich lange Zeitreihen finden wie beim Holz.
Hier kam dem Team zunächst die Steinbockhörner-Trophäensammlung des Naturhistorischen Museums Bern zur Hilfe: Der Steinbock speichert in seinen Hörnern isotopische Information über die Wassernutzung der Vegetation, die er gefressen hat. Daher griffen die TUM-Forscher in der Museumsammlung, welche die Jahre 1938 bis 2006 umfasst, zum Schnitzmesser - und entfernten von jedem Horn ein kleines Stückchen. Da auch Steinbockhörner Jahresringe besitzen, konnten die Grünlandforscher aus diesen Hornproben Rückschlüsse auf die Graslandvegetation der Berner Alpen ziehen, auf welcher die Tiere gegrast hatten.
Ein einmaliges Probenarchiv an der Forschungsstation Rothamsted in England ermöglichte schließlich den Vergleich mit einer zweiten Graslandschaft. In Rothamsted wurde vor gut 150 Jahren das heute älteste ökologische Graslandexperiment gestartet, das "Park Grass Experiment": Seit 1857 archivierte man dort Probenmaterial, um späteren Forschergenerationen mit neuen Messmethoden langfristige Einblicke in das Ökosystem vor Ort zu ermöglichen. Tatsächlich konnten die TUM-Forscher jetzt aus den bis zu 150 Jahre alten Heuproben - ebenfalls über eine Analyse der jeweiligen Isotopensignatur - herauslesen, wie die dortige englische Graslandvegetation das Wasser über die Jahre genutzt hat.
Auf diese Weise ermittelten die Weihenstephaner Forscher die individuelle Isotopensignatur der Graslandvegetation in den Berner Alpen und im britischen Flachland jeweils über lange Zeit: anhand der Hörner über 69 Jahre, anhand der Heuproben sogar über 150 Jahre. Diese Daten wurden in einem zweiten Schritt jeweils mit den Klimadaten der untersuchten Regionen verrechnet, etwa Lufttemperatur und -trockenheit. Das Ergebnis: An beiden Standorten ist die intrinsische Wassernutzungseffizienz der Graslandvegetation über die Jahre gestiegen. Das heißt: Die Pflanzen haben ihr Wasserspar-Potenzial erhöht, während es wärmer wurde und zunehmend mehr CO2 in die Luft gelangte. Damit haben die TUM-Forscher weltweit erstmalig die langfristige Wirkung des anthropogenen Klimawandels auf die Wassernutzungseffizienz von Grasland dargestellt.
Allerdings fanden sich Unterschiede zwischen den Standorten: In der Schweiz blieb die reale Wassernutzungseffizienz der Alpenwiese trotz der gestiegenen intrinsischen Wassernutzungseffizienz des Graslandes gleich, weil die Luft wegen des Klimawandels insgesamt trockener und wärmer geworden ist. In England fanden die Forscher diesen Befund nur für den Herbst bestätigt. Im Frühling dagegen - der in Rothamsted trotz des Klimawandels nicht trockener ausfällt als vor 150 Jahren - schlägt das Wasserspar-Potenzial der Graslandvegetation auch in der Realität durch. Diese Ergebnisse werden helfen, Klimasimulationen weiter zu verbessern: Komplexe Berechnungsmuster, die die Vegetation mit einbeziehen, konnten bisher beim Grasland nur mit Schätzungen arbeiten. Diese Black Box der Klimaforschung haben die Forscher der TU München jetzt gelüftet.
Quelle: Technische Universität München