Klimaflüchtlinge am Bodensee: Immer mehr südliche Vogelarten in Mitteleuropa heimisch
Archivmeldung vom 03.02.2007
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 03.02.2007 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittErstmals Auswirkung der Klimaveränderung auf die Zusammensetzung einer Vogelgemeinschaft nachgewiesen - Gute Datenlage dank Hobbyornithologen.
In einer Untersuchung der Johannes Gutenberg-Universität Mainz wird erstmals
nachgewiesen, dass die Klimaveränderung die entscheidende Ursache für die
Veränderung des Vogelbestands in Mitteleuropa darstellt. "Wir haben dank der
hervorragenden Arbeit von Amateurwissenschaftlern am Bodensee einen sehr guten
Überblick über die Bestandsentwicklung im Verlauf von 23 Jahren und sehen
teilweise drastische Entwicklungen, die allein auf die globale Erwärmung
zurückgehen", erläutert Univ.-Prof. Dr. Katrin Böhning-Gaese vom Institut für
Zoologie der Universität. Es zeigt sich, dass südliche Arten, die üblicherweise
im Mittelmeerraum heimisch sind, neu einwandern oder in ihren Beständen
zunehmen, während nördliche Arten, die ursprünglich am Bodensee zu Hause waren,
zurückgehen und die Vögel ihre Brutgebiete in den Norden verlagern. Diese
Entwicklung dürfte auch in Zukunft anhalten: "Ich erwarte, dass noch weit mehr
Klimaflüchtlinge aus dem Mittelmeerraum hier auftauchen", so Böhning-Gaese. Die
Studie über die Auswirkungen von Klima und Landnutzung auf den Vogelbestand wird
in der renommierten Fachzeitschrift Conservation Biology publiziert.
Unter dem Dach der Ornithologischen Arbeitsgemeinschaft Bodensee in
Konstanz haben sogenannte Citizen Scientists in drei Zeiträumen jeweils zu
Beginn der 80er und 90er Jahre sowie zu Beginn dieses Jahrhunderts die
Vogelpopulation um den Bodensee auf deutschem, schweizerischem und
österreichischem Gebiet erfasst. Dabei kartieren die Hobbyornithologen am frühen
Morgen mit der besten Methodik, die derzeit zur Verfügung steht, jeweils Gebiete
von vier Quadratkilometern Größe und notieren anhand von Aussehen und Stimme die
Art und Häufigkeit der vorkommenden Vogelarten. "Diese Daten sind für uns von
großem Wert, da wir ansonsten keinen zuverlässigen Überblick über die Bestände
hätten", erläutert Böhning-Gaese. Zusammen mit ihrer Doktorandin Nicole Lemoine
sowie Hans-Günther Bauer und Markus Peintinger vom Max-Planck-Institut für
Ornithologie in Radolfzell hat die Mainzer Biologieprofessorin diese Daten
ausgewertet und Unerwartetes festgestellt: Seit Endes des Krieges war die
Intensivierung der Landwirtschaft der wichtigste Faktor bei der Veränderung der
Vogelbestände, wobei die Vögel der Agrarlandschaft wie beispielsweise die
Feldlerche, das Rebhuhn oder der Kiebitz zurückgegangen sind. Dieser
Einflussfaktor wird jetzt erstmals durch den Klimafaktor weit übertroffen. "Die
Entwicklung ist so signifikant, dass es uns schon sehr überrascht hat, wie
drastisch das Klima bei uns in Mitteleuropa die Vogelpopulationen beeinflusst."
Die Temperatur am Bodensee hat in dem Untersuchungszeitraum zwischen
1980 und 2002 im Winter um 2,7 Grad Celsius und im Frühjahr zur Brutzeit der
Vögel um 2,1 Grad Celsius zugenommen. Im Gegensatz zu Pflanzen oder Amphibien
sind Vögel aber flexibel und können sich schnell anpassen. Das heißt Arten, die
eigentlich nach Südeuropa gehören, wandern bei uns ein oder vermehren sich
stärker. Arten, die hier ursprünglich heimisch sind, weichen zunehmen nach
Norden aus. So sind beispielsweise bei der dritten Kartierung erstmals die
Felsenschwalbe, die Zippammer und der Orpheusspötter - alles südliche,
mediterrane Arten - gesichtet worden. Seit der ersten Kartierung 1980 hat
dagegen der Bestand bei den Uferschnepfen um 84 Prozent und beim Gelbspötter um
74 Prozent abgenommen.
Insgesamt ergibt sich vorerst ein Zugewinn an
Arten - im Untersuchungszeitraum ist die Artenzahl von 141 auf 154 gestiegen.
"Derzeit gehören wir also noch zu den Klimagewinnern", erläutert Böhning-Gaese.
Problematisch ist allerdings, dass Arten im nördlichen Skandinavien oder in
Hochlagen von Gebirgen schon jetzt kaum noch Ausweichmöglichkeiten haben.
Die weitere Entwicklung dürfte nach Ansicht der Vogelexpertin den bisherigen Trend bestätigen. Es steht zu erwarten, dass noch mehr Klimaflüchtlinge aus dem Mittelmeerraum hier auftauchen und heimische Arten ihr Brutgebiet vermehrt nach Norden verlagern. "Die Vorbereitungen für die nächste Kartierung im Jahr 2010 laufen schon, dann werden wir mehr wissen." Die Wissenschaftler um Böhning-Gaese haben mit ihrer Auswertung der Bodensee-Daten weltweit erstmals den eindeutigen Zusammenhang zwischen Klimaveränderung und Bestandsveränderung nachgewiesen. In anderen Ländern und Regionen wie Großbritannien, Skandinavien und den USA, die ebenfalls über hervorragende Datensätze verfügen, werden diese Fragestellungen derzeit noch bearbeitet. Die Bodensee-Studie wird in dem renommierten Fachjournal Conservation Biology veröffentlicht und ist im Laufe des Februars über den Onlinedienst des Journals einzusehen (http://www.blackwell-synergy.com/toc/cbi/0/0).
Quelle: Pressemitteilung Informationsdienst Wissenschaft e.V.