Seismologe Prof. Dr. Rainer Kind sagt: Italien muss mit Erdbeben leben, kann sich aber besser vorbereiten
Archivmeldung vom 02.09.2016
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittSchwere Erdbeben sind für Italien nicht ungewöhnlich. "Leider bleibt eine seriöse Vorhersage bis auf Weiteres unmöglich", sagt der Seismologie-Professor Dr. Rainer Kind vom Geoforschungszentrum Potsdam. Doch selbst die mittelalterlichen Dörfer könnten erdbebensicherer gemacht werden. "Das ist aber teuer."
Italien wird von Kräften der Plattentektonik geradezu in die Zange genommen. Können Sie skizzieren, welche komplexen Kräfte außer der afrikanischen Platte noch gegen den Stiefel drücken bzw. an ihm zerren und so in Mittelitalien immer wieder für Erdbeben sorgen? Prof. Dr. Rainer Kind: Großflächig greift da die Nord-Ost-Bewegung der Afrikanischen Platte an. Seit vielen Millionen Jahren bewegt sich die afrikanische Platte mit ca 2 cm pro Jahr nach Nordosten und schließt dabei das Mittelmeer langsam. Im Detail ist es allerdings noch sehr viel komplizierter. Lokal kommt es sogar zu entgegengesetzten Kräften. So taucht im Tyrrhenischen Meer im Südwesten des italienischen Stiefels eine Platte ab, was eine Dehnung nach Südwesten verursacht. Das kann man mit GPS sehr gut messen: Der östliche Teil der italienischen Halbinsel bewegt sich im Verhältnis zum westlichen Teil mit einer Geschwindigkeit von fünf Millimeter pro Jahr nach Nordosten, während der westliche Teil relativ stehenbleibt. Also wird Italien jedes Jahr um fünf Millimeter breiter. Das verursacht eine Dehnungsspannung im Apenninen-Gebirge, dann kommt es zu diesen Dehnungsbeben. All diese Beben wie in L'Aquila 2009 und das Beben bei Assisi 1997 sowie die jetzigen Beben resultieren aus Brüchen in der Erdkruste, die durch Zugspannung entstanden sind.
2009 beim Beben in L'Aquila gab es mehrere deutliche Vorbeben, bei dem jüngsten nahe Norcia hingegen keines. Wird es grundsätzlich unmöglich bleiben, Beben vorherzusagen oder gibt es Chancen über die Registrierung von Deformierungen der Erdkruste über GPS? Prof. Kind: Tatsächlich gibt es bisher nach wie vor keine verlässliche Erdbeben-Vorhersage und in absehbarer Zeit wird es sie auch nicht geben. Allerdings erlaubt GPS Fantasie. Noch liegt die Genauigkeit des GPS-Instruments aber erst im Millimeterbereich. Seismometer können hingegen Veränderungen im Nanometer-Bereich messen, sie sind sehr viel empfindlicher: Aber: Als Trägheitspendel reagieren sie nicht auf die ganz langsamen Bewegungen der Platten. GPS ist prädestiniert dazu, aber leider noch nicht genau genug. Um schwache Vorläufer-Bewegungen aufspüren zu können, müsste man viel höher auflösende Bewegungs-Messgeräte entwickeln.
Sind Frühwarnsysteme denkbar ähnlich derer bei Tsunamis, die Alarm auslösen, sobald die erste seismische Welle gemessen wird? Prof. Kind: Es gibt Frühwarnsysteme auch für Erdbeben, aber ihr Nutzen ist begrenzt. Man hat in Indonesien eine Vorwarnzeit von 15 Minuten vor einem Tsunami. In dieser Zeit kann man schon einiges machen. Beim Erdbebenwarnsystem ist es schwieriger, da die Erdbebenwellen sehr viel schneller als Tsunamiwellen laufen. In Mexiko, Japan gibt es solche Systeme, in der Türkei wird daran gearbeitet. In Mexiko gewinnt man etwa 30 bis 40 Sekunden Zeit. Typischerweise sind die Erdbeben an der mexikanischen Pazifikküste. Die Hauptstadt Mexiko City ist ungefähr 400 Kilometer entfernt. Das heißt, die zerstörerische Oberflächenwelle erreicht die Hauptstadt 30 bis 40 Sekunden nach der Information über das eingetretene Erdbeben. Für Mittelitalien würde das aber nicht funktionieren, die Beben sind direkt unter den Ortschaften. Im Epizentrumsgebiet kann man nichts machen, dafür ist die Zeit zu kurz. Man kann nur Regionen warnen, die einen bestimmten Abstand haben.
Gibt es bei einer weit zurückreichenden Betrachtungsweise zeitliche Muster, in denen sich die Spannung in der Erdkruste in Mittelitalien entlädt? Prof. Kind: Ja, aber keine einfachen. So gab es um Norcia 1703 drei Erdbeben, die noch heftiger waren, als das aktuelle. Damals starben in wenigen Wochen zehntausende Menschen. 300 Jahre danach brach diese Region erneut, aber nicht so schnell wie damals, das hat sich jetzt über Jahre hingezogen. In Assisi bebte es 1997, in Aquila 2009, nun in Norcia. Aber noch ist nicht die gesamte Region, die damals gebrochen war, erneut gebrochen. Es gibt zwischen dem jetzigen Beben von Norcia und dem von Assisi eine Lücke von ungefähr 20 Kilometern Länge, wo nichts gebrochen ist. Das kann man aus der Verteilung der Nachbeben und den mit GPS gemessenen Bewegungen der Erdoberfläche abschätzen. In dieser noch nicht betroffenen Region könnte noch ein Erdbeben erfolgen, muss aber nicht. Aber man kann auf keinen Fall sagen, dass die Region nun vollständig entspannt ist und es daher keine Beben in nächster Zeit geben wird.
Bei dem Beben soll die 20000-fache Energie der Hiroshima-Bombe freigeworden sein. Lassen sich die aufgebauten Spannungen an den Plattenrändern eigentlich messen? Prof. Kind: Ja, man kann die Energie abschätzen, die ein Erdbeben freigesetzt hat. Die Magnitude sagt etwas darüber aus. Da kann man solche Verhältnisse herstellen.
Aber vorab kann man dies nicht an den Platten messen, die sich gegeneinander verschieben oder übereinander gelagert sind? Prof. Kind: Nein, leider nicht. Man kann lediglich aus den Verschiebungen an der Erdoberfläche herleiten, dass sich dort Spannung aufbaut. Aber wie sie sich löst, ist offen. Man weiß nicht, wo die Belastungsgrenze ist. Meistens hat man auch nicht genügend GPS-Messungen zur Verfügung. Entsprechende GPS-Messsysteme befinden sich in erdbebengefährdeten Gebieten im Aufbau. Der Ansatz ist natürlich richtig.
Die Stadt Norcia - obwohl nur 10 Kilometer vom Epizentrum entfernt - musste keine Opfer beklagen, Amatrice hingegen Hunderte. Grund: Norcia wurde vor Jahren nach verheerenden Beben neu - und erdbebensicher - aufgebaut. Wie erklärt sich der Fatalismus der Italiener in Sachen Vorsorge? Prof. Kind: Das ist eine sehr schwere Frage. Italien musste schon immer mit Erdbeben umgehen. Aber es gibt zum Beispiel vom US Geological Survey eine Studie, wie unterschiedlich sich ein Beben mit der Zerstörungs-Intensität 9 auf der Mercalli-Skala - also großflächigen Verwüstungen, bei denen erdbebensichere Gebäude aber nur beschädigt sind - auswirkt. Bezogen auf eine Region mit 10000 Einwohnern würden im Iran 3000 Leute sterben, in Italien 150 und in Kalifornien 3. Das ist auf die unterschiedliche Bauweise der Häuser zurückzuführen. In Iran hat man Lehmhäuser mit schweren Dächern oben drauf. In der großen Staubentwicklung ersticken die Menschen. In Italien gibt es zum großen Teil mittelalterliche Bauwerke in den Dörfern. Während man in Kalifornien schon seit vielen Jahrzehnten erdbebensicher baut, ist das in Italien natürlich schwieriger. Die alte Bausubstanz kann man nur sehr schwierig sicherer machen. Obwohl es viele Ankündigungen gibt, war die Umsetzung nicht ausreichend. In Amatrice ist eine Schule eingestürzt, die wohl erdbebensicher ausgebaut gewesen sein sollte. Offensichtlich werden die guten Regeln für erdbebensicheres Bauen nicht immer eingehalten.
Können alte Gebäude durch den Einbau von Stützen, Erdbebenankern oder zusätzlichen Mauern effektiv gesichert werden? Prof. Kind: Ja, man müsste Stahlverstärkungen und -träger einbauen. Fachwerkhäuser sind auch sehr sicher. In Deutschland mit unseren schönen Holzfachwerken würde nicht so viel passieren bei gleich starken Erdbeben. Und so etwas kann man zusätzlich einbauen in die alten Häuser. Mehr Erdbebensicherheit ist möglich, aber teuer.
Viele Universitäten in Italien forschen an der Frage, wie das Risiko bei der Erdstößen verringert werden kann. Warum klappt der Technologietransfer von der Forschung in die Praxis nicht? Prof. Kind: Mit Schuldzuweisungen sollte man von Deutschland aus sehr vorsichtig sein. Aber dass es da anscheinend ein Problem gibt, haben die Italiener selbst erkannt. Denn die Erdbebengefährdung ist mit der in Kalifornien und Japan vergleichbar. Und dort haben sie es geschafft, die Häuser sicherer zu bauen. Aber in Kalifornien gibt es natürlich diese Masse von mittelalterlichen Bauwerken nicht.
In Italien sorgen die mittelalterlichen Städte für hohe Opferzahlen, in Kalifornien hingegen stehen zwei Atomkraftwerke nahe der Pazifikküste. Droht an der St.-Andreas-Verwerfung ein Bebenszenario wie in Fukushima? Prof. Kind: Das kann schon passieren. Ich weiß nicht, ob die Kraftwerke dort so nah an der Küste sind, dass sie durch Tsunamis gefährdet wären Aber es wird in den USA intensiv über die Erdbebensicherheit von Kernkraftwerken diskutiert. Derartige Standorte werden auch in Kalifornien sehr kritisch gesehen.
Wieso siedeln die Menschen immer wieder in seismisch heißen Zonen wie Tokio, San Francisco oder Istanbul? Prof. Kind: Es dauert immer sehr lange, bis sich Erdbeben wiederholen. Das große Beben von San Francisco von 1906 ist 110 Jahre her, deshalb es kann jederzeit wieder krachen. Aber die Gegenden sind offenbar so attraktiv, dass das Risiko bewusst in Kauf genommen wird. Das ist auch nicht unvernünftig, wenn man dann in diesen Gegenden erdbebensicher baut. Letztendlich steigen wir alle ins Auto, obwohl wir um das Risiko furchtbarer Unfälle wissen.
Meidet ein Seismologe wie Sie erdbebengefährdete Gebiete? Prof. Kind: Nein, im Gegenteil. Sehr häufig finden Kongresse von Erdbebenforschern an den Hotspots statt. Aber klammheimlich bin ich doch erleichtert, wenn das Flugzeug wieder in der Luft ist.
Das Interview führte Joachim Zießler
Quelle: Landeszeitung Lüneburg (ots)