Insekten tarnten sich schon vor 100 Millionen Jahren
Archivmeldung vom 25.06.2016
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittWer zu einem Maskenball geht, schlüpft bewusst in eine andere Rolle, um nicht so schnell erkannt zu werden. Ganz ähnlich machten es bereits Insektenlarven in der Kreidezeit: Sie hüllten sich in Pflanzenstückchen, Sandkörner oder die Überbleibsel ihrer Beute, um etwa für Fressfeinde unsichtbar zu sein. Ein internationales Forscherteam hat nun unter Beteiligung der Universität Bonn solche in Bernstein verewigte „Tarnkappen“ untersucht. Die maßgeschneiderten „Kostüme“ lassen auch Rückschlüsse auf den damaligen Lebensraum zu. Die Ergebnisse sind nun im Fachjournal „Science Advances” veröffentlicht.
Die Florfliegenlarve macht sich über den Pseudoskorpion her und saugt ihn mit ihren kräftigen Mundwerkzeugen aus. Anschließend packt sich die Larve die Reste des toten Beutetiers auf ihren Rücken. Die Umrisse der Florfliege sind jetzt nicht mehr zu erkennen. Sie sieht nun eher wie ein toter Pseudoskorpion aus. Diese Tarnung schützt die Florfliege davor, von Fressfeinden erkannt zu werden, und macht es ihr gleichzeitig leichter, Beutetiere zu jagen. „Mit dieser `Verkleidung´ täuscht die Florfliegenlarve vor, jemand ganz anderes zu sein“, sagt Prof. Dr. Jes Rust vom Steinmann-Institut der Universität Bonn. „Sie nimmt mit den Beutestücken sogar den Geruch des Pseudoskorpions an.“
Die Szene spielte sich in der Kreidezeit ab und ist als „Schnappschuss“ im Bernstein festgehalten. Ein Forscherteam um Dr. Bo Wang vom State Key Laboratory of Paleobiology and Stratigraphy in Nanjing (China) hat zusammen mit Paläontologen der Universität Bonn sowie weiteren Wissenschaftlern aus China, USA, Frankreich und England insgesamt 35 in Bernstein konservierte Insekten untersucht. Die Larven trieben mit Hilfe von Sandkörnern, Pflanzenresten, Holzfasern, Staub oder eben den leblosen Hüllen ihrer Opfer Camouflage zur Perfektion. Die Bernsteinproben stammen aus Myanmar, Frankreich und dem Libanon.
Belege der frühen Camouflage von Insekten sind sehr selten
„Dabei handelt es sich um sehr seltene Fossilien, die uns einen einmaligen Einblick in die Lebewelt vor mehr als 100 Millionen Jahren geben“, sagt Privatdozent Dr. Torsten Wappler, der am Steinmann-Institut der Universität Bonn diese ältesten Belege zur Tarnung zusammen mit Dr. Wang und Prof. Rust einordnete. Das Forscherteam erstaunte, welch breites Spektrum der Camouflage sich Insekten bereits in der Kreidezeit angeeignet hatten.
Manche Larven bastelten sich aus Sandkörnern eine Art „Ritterrüstung“, die etwa vor Spinnenbissen schützte. Um sich ihr „Tarnkostüm“ maßschneidern zu können, haben sie ihre Gliedmaßen an diesen Zweck angepasst: Die Larven konnten ihre Beine um rund 180 Grad drehen, um die tarnenden Sandkörnchen auf ihren Rücken zu transportieren. Wieder andere hüllten sich in Pflanzenreste, um eins mit der Umgebung zu werden und kaum für Beutegreifer erkennbar zu sein. „Es ist sehr überraschend, wie früh sich in der Evolution ein solch komplexes Verhalten von Insekten herausgebildet hat: Die Larven mussten aktiv nach geeignetem `Tarnmaterial´ suchen, es aufnehmen und sich damit einhüllen“, sagt Dr. Wang, der mit einem Stipendium der Humboldt-Stiftung zu mehreren Forschungsaufenthalten an der Universität Bonn zu Gast war.
Auf unterschiedlichen Wegen zur optimalen Tarnung
Die Wissenschaftler haben den Stammbaum dieser „Tarn-Insekten“ analysiert. Deshalb wissen sie, dass die Tiere ganz unabhängig voneinander solche Strategien entwickelt haben müssen, weil sie nicht nahe miteinander verwandt sind. „Offenbar bietet Camouflage viele Vorteile für die Nutzer, weshalb sie während der Evolution gleich mehrfach `erfunden´ wurde“, fasst Prof. Rust zusammen. Auch heute noch gibt es zahlreiche Insektenarten, die sich etwa durch Sandkörnchen unsichtbar machen – zum Beispiel die Köcherfliegenlarven in Bächen und Flüssen.
Das Forscherteam schloss aus der Camouflage der verschiedenen Bernstein-Insekten auch auf deren damaligen Lebensraum. Bei der Untersuchung eines Ameisenlöwen-Vorläufers unter dem Mikroskop zeigte sich, dass sein Tarnkleid aus winzigen Farnstücken bestand. „Dabei handelte es sich um Farnarten, die zum Beispiel nach Bränden zu den ersten wieder siedelnden Pflanzen gehörten“, erläutert Dr. Wappler. Vermutlich breitete sich in der Kreidezeit ein Buschfeuer aus, das die Bäume verletzt und zu ungewöhnlich starker Harzproduktion angeregt hat. Auf diese Weise wurden die „kostümierten“ Larven in das Baumharz eingeschlossen und die Szenerie bis heute erhalten.
Quelle: Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn (idw)