Doris Dörrie: "Unser Spiegel macht uns unglücklich."
Archivmeldung vom 20.03.2014
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Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt"Ich glaube, dass uns der Spiegel unglücklich macht. Es gibt fast niemanden, der mit seinem Spiegelbild völlig zufrieden ist. Man entdeckt graue Haare, einen Pickel. Ein Spiegel fordert uns auf, anders sein zu wollen. Heute lassen wir uns jedoch immer öfter von unserem eigenen Spiegelbild erpressen", sagt die mehrfach ausgezeichnete Regisseurin Dorris Dörrie im Interview mit der Philosophie-Zeitschrift HOHE LUFT (Ausgabe 3/2014).
In sozialen Netzwerken würden wir immer mehr Abbilder von uns selbst inszenieren. "Wir geben vor, jemand Interessanteres und Attraktiveres zu sein - und erhalten Bestätigung von anderen Menschen dafür. Unbewusst versuchen wir die fremden Erwartungen zu erfüllen und nähern uns so nach und nach diesem vermeintlichen Selbstbild, das wir gestaltet haben. Irgendwann überlagert es die Realität, und wir verlieren uns selbst, so als würden wir in einen Endlosspiegel gucken", so die Schriftstellerin.
Die 58-Jährige nahm sich deshalb eine Auszeit vom täglichen Blick in den Spiegel. "Ich habe vor einiger Zeit mehrere Wochen in einem Zen-Kloster in Japan gewohnt. Dort gibt es keine Spiegel. Es ist interessant, was mit einem passiert, wenn man über mehrere Wochen nicht in einen Spiegel schaut", erzählt die gebürtige Hannoveranerin. "Man muss die Kontrolle über das eigene Selbstbild abgeben. Das ist verwirrend. Eine seltsame Form der Auflösung, die mir gutgetan hat." Nicht nur in Japan, auch Zuhause in München und Bernbeuren meditiert sie: "Manchmal gelingt es mir, für einen Moment damit aufzuhören, mich ständig meiner selbst zu vergewissern. Das erfüllt mich mit Ruhe und Freiheit."
"Wir glauben, dass es etwas gibt, das uns auszeichnet und unverwechselbar macht. Doch diese Idee gerät für mich immer mehr ins Wanken." Die erfolgreiche Produzentin war sich ihrer Identität noch nie sicher. "Ich weiß nicht, was mich ausmacht. Ich kann nur zurückblicken und sagen: Meine Haut, meine Haare, ja, das bin auch ich. Aber es ist keine Definition von mir. Wir setzen uns aus zahlreichen Facetten zusammen - und auf viele haben wir keinen Einfluss." In jedem Moment würden wir uns neu erfinden: "So ist die Vorstellung von dem, was ich bin, reine Fiktion. Ein Glück für mich. Denn als Schriftstellerin ist mir bewusst, dass ich mich im Laufe des Tages mit der Geschichte verändere, die ich schreibe. Mal bin ich die eine Figur, dann die andere, dann der Erzähler. Ich muss so tief in die Welt eintauchen, die ich beschreibe, dass ich zu einem Teil dieser werde", erzählt Dörrie im HOHE LUFT-Interview (www.hoheluft-magazin.de).
Quelle: Hohe Luft Magazin (ots)