Wladimir Kaminer: Viele sehen in mir einen Freund, obwohl sie mich gar nicht kennen
Archivmeldung vom 21.08.2020
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Freigeschaltet durch André OttAutor Wladimir Kaminer ("Russendisko") erlebt in der deutschen Bevölkerung viel Empathie ihm gegenüber. "Viele sehen in mir einen Freund, obwohl sie mich gar nicht kennen", sagte der 53-Jährige in einem Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung (NOZ).
"Ich bin eine Projektionsfläche, jeder projiziert aber etwas anderes: Ich bin ein Einwanderer, ein Schriftsteller, der versucht, nah am Leben zu schreiben, ein Mensch, mit dem sie Party feiern, aber auch Diskussionen führen können, ein neugieriger, fragender Mensch und ein Deutschland-Liebhaber. Wahrscheinlich sehen mich viele auch in der Funktion eines modernen Till Eulenspiegel."
Obwohl er schon vor 30 Jahren aus Russland nach Deutschland kam, müsse er immer noch gedanklich seine Muttersprache ins Deutsche transportieren, sagte Kaminer. "Ich muss noch immer alles im Kopf übersetzen, was ich sage und schreibe. Aber das ist gut so. Die russische Sprache ist wie ein Schwamm, da kann man alles Mögliche mit einem Wort ausdrücken. Die Bedeutung ist sehr vielseitig, aber eben auch schwammig. Auf Deutsch kann man sehr klar und präzise formulieren. Das schätze ich an der Sprache sehr. Deswegen haben die Politiker hier ein Problem. Sie würden gerne etwas allgemeiner und vernebelter sprechen, aber Deutsch ist nun mal Deutsch. Es ist genauso gemeint, wie es gesagt wird."
Russische Einwanderer hätten Deutschland bereichert, so Kaminer: "Sie haben auf jeden Fall ihren Beitrag geleistet, dass Deutschland zu dem modernen europäischen Land geworden ist, das es heute ist. Deutschland war für viele dieser Einwanderer aus dem Osten ein Traumland. Sie haben aber schnell gemerkt, dass es kein Schlaraffenland ist, wo die gebratenen Tauben in den Mund fliegen. Sie mussten sich viel Mühe geben und hart arbeiten, ihren eigenen Traum hier zu verwirklichen. Das haben die meisten erfolgreich geschafft."
Die Corona-Krise hätten die Deutschen im Vergleich zu den Russen gut gemeistert, sagte Kaminer weiter. "Die Deutschen haben die Pandemie viel ernster genommen als die Russen, aber sie haben es übertrieben, was die Anzahl und Unterschiedlichkeit von Anordnungen des Staates und jedes Bundeslandes betrifft. Abgesehen von einigen Tausend Demonstranten sind die Deutschen sehr ordnungstreue, disziplinierte Bürger. In Russland ist der erste Gedanke eines jeden Bürgers, wenn er eine neue Anordnung vom Staat bekommt, wie er die umgehen kann. Die Russen denken gar nicht daran, dass sie auf der gleichen Seite mit dem Staat stehen. Das waren schon immer zwei feindliche Seiten."
Auch er selbst sei von der Krise hart getroffen worden, so Kaminer. "Ich habe viele Einnahmen verloren. Das war für alle ein herber Einschlag. Ich sehe die Krise aber bis jetzt noch nicht als große Katastrophe. Wir haben ja vorher sehr gut gelebt, sind viel um die Welt geflogen, haben viel getanzt und Discos veranstaltet. Jetzt müssen wir eben den Gürtel mal etwas enger schnallen."
Quelle: Neue Osnabrücker Zeitung (ots)