Lars Eidinger über Shitstorms und Tabus: Wir werden verstummen
Archivmeldung vom 18.09.2020
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Freigeschaltet durch André OttLars Eidinger zeigt sich "alarmiert" über die Debattenkultur: "Die Kunst muss frei sein. Wenn man sich moralisch einschränken lässt, wenn einem immerzu Böses unterstellt wird, dann werden wir über kurz oder lang verstummen", sagte der 44-jährige Schauspieler im Interview mit der "Neuen Osnabrücker Zeitung" (NOZ).
Eidinger weiter: "Überall ploppen im Moment wahnsinnig komplexe Debatten auf, aber nur in den seltensten Fällen gibt es den Raum, sich dazu in aller Komplexität zu äußern. Und dann sind die Debatten so moralisch. Das wundert mich am meisten - wie viele bereit sind, sich moralisch über andere zu erheben. Schon weil das voraussetzt, dass es überhaupt Gut und Böse gibt. Nicht mal daran glaube ich."
Eidinger nannte ein Beispiel seiner Bühnenpraxis: "Für Richard III. wurde mir schon 'Crippling up' vorgeworfen. Das ist so ähnlich wie Blackfacing", erklärte er. "Ich spiele einen Behinderten, feiere damit Erfolge; und das darf ich nicht. Weil - ich bin ja gar nicht behindert. Wo ist da die Grenze? Wenn ich jemanden spiele, der traurig ist, und es selbst gar nicht bin - erhebe ich mich dann nicht über alle, die wirklich traurig sind? Der Raum wird wahnsinnig eng. Und das empfinde ich als Bedrohung."
Angst vor dem Shitstorm findet Eidinger "fatal, auch künstlerisch". Zumal sie ihm zufolge sogar Weltstars betrifft: "Als ich mit Meryl Streep in der Berlinale-Jury war, hat sie gesagt: Du kannst deine Glaubwürdigkeit mit einem Satz zerstören", berichtete er. "Das ist bitter. Meryl Streep wirkt so unangreifbar; ihr wird so viel Liebe entgegengebracht. Ich möchte in keiner Gesellschaft leben, die mich für einen einzigen Satz verurteilt. Ich wünsche mir eine Kultur des Scheiterns. Aber wer Fehler macht, wird bestraft."
Eidinger selbst hatte unlängst einen Shitstorm erlebt, als er eine hochwertige Aldi-Tasche aus Leder entworfen und damit als Obdachloser posiert hatte. "Was die Tasche angeht, war es ein Missverständnis", sagte er nun. "Ich frage mich, was die Leute mir unterstellen: dass ich mich bereichern wollte? Oder über Obdachlose lustig machen? Ich finde Hochglanzwerbung, die Armut ausklammert, wesentlich zynischer. Genauso wie Produkte zu tragen und auszublenden, wer sie zusammennäht."
Bedauern äußerte Eidinger auch in einer ganz anderen Sache - darüber dass er nicht in Tarantinos "Inglourious Basterds" auftreten durfte: "Ich war nicht zum Casting eingeladen. Und bis heute weiß ich nicht wieso. Man hat mich vergessen. Es ist schrecklich. Für mich ist 'Inglourious Basterds' ein ganz großer Film. Einer der besten zum Thema", sagte Eidinger. "Und dann war es eine absolute Genugtuung, Adolf Hitler bei einem Attentat sterben zu sehen. Danach sehnt sich doch jeder! Für mich war das eine tiefe Befriedigung."
Quelle: Neue Osnabrücker Zeitung (ots)