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Der Kampf um Russlands Seele: Von Patrioten und einem "westlich-liberalen Kultur-Pufferraum"

Archivmeldung vom 04.02.2023

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 04.02.2023 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Sanjo Babić
Gespaltene Kunstszene: Die Sängerin Zemfira bei einem Konzert im August 2018 in Moskau Bild: Sputnik / Maksim Blinov
Gespaltene Kunstszene: Die Sängerin Zemfira bei einem Konzert im August 2018 in Moskau Bild: Sputnik / Maksim Blinov

Seit dem 24. Februar 2022 sind die Masken in Russland gefallen. Das gilt auch für Kulturschaffende, unter denen eine teils sehr haptische, hysterische Auslese stattfand: auf der einen Seite die, die ihr Land empört verlassen haben, auf der anderen die, die es unterstützen. Dies berichtet Elem Chintsky im Magazin "RT DE".

Weiter berichtet Chintsky  auf RT DE: "Im Westen hat man nicht die leiseste Ahnung davon, wie viel Freiheit die mächtige, liberale Schicht der Kulturschaffenden in Russland bisher hatte. Und besonders im Jahr 2022 sind es nicht Wladimir Putin und der Kreml, die effektiv auf diese ideologische Unausgewogenheit aufmerksam machen oder gegensteuern. Es ist die russische Zivilgesellschaft.

In der westlichen Propaganda gibt es viele Missverständnisse über die russische Realität – manche sind beabsichtigt, manch andere entstehen und werden verfestigt durch aufrichtige Ignoranz der verantwortlichen Systemmedien. Zum Beispiel hält sich das Vorurteil wacker, dass die russischen Oligarchen Wladimir Putin die letzten 20 Jahre unterstützt hätten, sich unter seinen Fittichen befinden würden und stellvertretend seinen Willen und seine Absichten in der westlichen (Finanz-)Welt ausgeübt hätten.

Dabei hat sich die russische Oligarchen-Klasse bereits eine Dekade vor Putins Verpflichtung zum Volksvertreter manifestiert, woran man kurz nach Beginn der militärischen Sonderoperation erinnert hatte. Nämlich als der gesamte Energie-, Rohstoff- und Schwerindustriesektor der Sowjetunion zugunsten westlicher, besonders US-amerikanischer, Konglomerate in den späten 1980er und im Laufe der gesamten 1990er Jahre im Eiltempo privatisiert wurde.

Dieser Prozess wurde eingeleitet durch "willige Reformatoren" – wie Tschubais, Gaidar, Beresowski oder Chodorkowski, aus dem Inneren der sich zerfressenden Eliten der Sowjetunion, und wurde später abgeholt, geleitet und überwacht von der Präsenz des westlichen Neoliberalismus, der ab einem gewissen Moment bereits sogar direkt Vorort figurierte und mit "beratender" Hand zur Seite stand und riesige Gewinne für sich hinaus schleuste. Die erste McDonald's-Filiale in Moskau im Jahr 1990, als erste Siegesfackel des westlichen Segens, illustriert bestens die Früchte dieser Zeit.

Wem der Exodus derselben, bekanntesten Fast-Food-Kette der Welt im letzten Jahr aufgefallen ist, versteht, dass ein authentischer Umkehrprozess in Bewegung gesetzt wurde.

Bevor wir zur Kultur kommen, erlauben wir uns den US-amerikanischen Gelehrten, Juristen und Wirtschaftsexperten James G. Rickards zur Rate zu ziehen, der letztens die oben erwähnten Missverständnisse über die Mythen von den "Oligarchen Putins", aber auch die "Allmacht westlicher Sanktionen" widerlegt: 

"Sie [die Sanktionen] werden nicht nur nicht funktionieren, sie werden auch nach hinten losgehen. Sie werden den Vereinigten Staaten und Europa mehr schaden, als sie Russland schaden. Es hat sich genau so abgespielt, wie ich es meiner Unterrichtsklasse im April erläutert habe: Russland hat kaum gelitten. [...] Oligarchen – haben sie die Stadtvillen im Londoner Belgravia und ihre Yachten verloren? Ja, das haben sie. Aber was die Amerikaner nicht verstehen, ist, dass Putin die Oligarchen hasst.

Putin sollte Biden ein handgeschriebenes Dankschreiben schicken, in dem er sich dafür bedankt, dass er die Oligarchen vernichtet hat. Putin würde es nicht selbst tun. Was er tat, war, einige von ihnen ins Gefängnis zu stecken – Chodorkowski und andere – um den übrigen zu sagen, ihr könnt eure Milliarden an Dollar behalten, aber mischt euch nicht in die Politik ein – das war die Botschaft. Die Oligarchen haben die Botschaft verstanden, hatten ihre Stadtvillen und ihre Yachten, mischten sich aber nicht in die Politik ein. Aber Putin wollte sie eigentlich loswerden, wenn er könnte. Er konnte es nur nicht, denn sie hatten eine gewisse Macht im System."

Rickards lehrt "Finanzielle Kriegsführung" ("Financial Warfare") am United States Army War College in Pennsylvania und ist mit seiner ideologischen Gesinnung als Quelle in diesem Kontext und besonders verlässlich.

Was hat das alles mit Kultur zu tun?

Geopolitik, wie der russische Philosoph Alexander Dugin oft unterstreicht, ist eine synthetische Lehre aus mehreren Bereichen – darunter Politik, Geografie, Soziologie, Anthropologie und Finanzwesen. Um erfolgreiche Geopolitik zu betreiben, ist ein gutes Verständnis dieser Teilbereiche in dem Gebiet, in dem man Einfluss nehmen möchte, erforderlich. So hat auch das Kulturwesen ein wichtiges Standbein – manche würden berechtigterweise behaupten, dass es eine Grundfeste ist – in einer Gesellschaft. Und da ist die russische keine Ausnahme.

Das Maß an Schaffensfreiheit, das der Kunst- und Kultursektor in Russland (größtenteils sogar noch bis zum heutigen Tag) im Hinblick auf prowestliche Inhalte genießt, ist kolossal. Von solcher Freizügigkeit könnte gespiegelt die heutige EU nur "träumen" – obwohl natürlich jedem klar sein sollte, dass dem kulturell-industriellen EU-Komplex echte Rede- und Gewissensfreiheit ein gefährlicher Dorn im Auge wäre. Deshalb werden symptomatische Begriffsverwirrungen eingesetzt, um die heutige "Krisenzeit" der in der EU zerbröselnden Meinungs- und Pressefreiheit zu kaschieren und zu überbrücken. Wie Věra Jourová – die EU-Kommissarin für vermeintliche "Werte und Transparenz" – in einem ihrer letzten Tweets zeigt:

"Die öffentlich-rechtlichen Medien spielen in Demokratien eine besondere Rolle, erst recht in Krisenzeiten. Wir diskutierten mit CillaBenko, wie der #MediaFreedomAct die Unabhängigkeit der öffentlich-rechtlichen Medien in der EU garantieren kann. Das Gesetz würde als Sicherheitsnetz im Falle von Bedrohungen auf nationaler Ebene dienen."

Darin impliziert sie in einem Atemzug angeblich inhärente Verwandtschaft zwischen "Unabhängigkeit" und "öffentlich-rechtlichen Medien" in der EU — zwei einander widersprechende Kategorien, die in "Krisenzeiten" Sinn ergeben sollen. Die EU borgt sich sogar den in der Bundesrepublik bereits tief verwurzelten, archaisch-abstrusen Strohmann, dass der durch staatlichen Steuerzwang finanzierte, öffentlich-rechtliche Rundfunk hier wahrhaftig "unabhängig" und "politisch unvoreingenommen" sei.

Es muss gesagt werden, dass die bisherige inhaltliche Freizügigkeit des kulturellen Sektors von Russland eher auf Naivität der hohen Staatsführung zurückzuführen ist. Nicht aber auf die Absicht, mit dem Westen einen bewussten Wettlauf um den Titel des besten Beschützers der Rede- und Gewissensfreiheit zu gewinnen. 

Wenn die Deutschen nur wüssten, dass der geistlich-intellektuelle Kampf um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit in Russland viel chaotischer verläuft, als dargestellt, würde man den eigenen Mangel an Gewissens- und Meinungsfreiheit im Kulturbereich etwas tiefer empfinden.

Zurzeit besteht auch das Vorurteil, dass Präsident Wladimir Putin mit eiserner Faust alle Kanäle der inländischen Kommunikation kontrolliert und streng justiert, hin zu einer hyper-patriotischen Dauer-Beschallung, der sich kaum ein Bürger entziehen könne.

Ein solcher Status liegt noch sehr weit von der Wahrheit entfernt. Ja, es gibt patriotische Plakate im öffentlichen Raum und die Nachrichtensender rattern, um andauernd zu erklären, warum die militärische Sonderoperation überhaupt begonnen hat. Verblüffenderweise wusste auch ein großer Teil der Russen vor Februar 2022 selbst nicht genau, was da auf ihr Land zukommt, und warum. Aber sobald man über diese zentralisierten Aufklärungsbemühungen hinausschaut, mit Blick auf den allgemeineren Bereich Kultur, wird es schon mager.

Sachar Prelepin und seine Organisation GRAD

Der bekannte russische Schriftsteller Sachar Prilepin ist Gründer von GRAD – "Gruppe für die Ermittlung anti-russischer Tätigkeiten in der Kultursphäre". Die Organisation ist einzigartig in Russland und hat sich zur Aufgabe gemacht hat, das komplexe System der staatlichen Kulturförderung von ihrer westlichen Vereinnahmung zu lösen. Noch kürzer: Kulturschaffende westlicher Gesinnung, die im russischen Kulturraum aktiv sind, sollen durch diese Gruppe ausfindig gemacht und von der öffentlichen, Steuergeld-finanzierten Kapitalförderung, die sie bisher im vollen Maß nutzten – oft um das eigene Land anzuschwärzen –, abgetrennt werden. Auf seinem Telegram-Kanal fasste Prilepin letzten September den Stand der Dinge, wie er im März 2022 war, ziemlich direkt zusammen:

"Das allererste Z-Konzert wurde von uns, meinen Leuten, veranstaltet. Das war bereits im März. Zaldastanow stellte einen Club in Moskau, wir luden Django, 7B, Ochlobystin ein, die Band Zemljane sagte plötzlich zu, die Band Zveroboi war da. Alle wichtigen russischen Medien kamen, und wir drehten 50 Berichte.

Einige wichtige Leute versuchten, das Konzert zu stören, sie riefen Zaldastanow an, um ihn davon abzuhalten, uns den Club zu überlassen, und ein paar berühmte Musiker versuchten, ihn davon abzubringen, zu uns zu kommen.

Aber wir haben es geschafft.

Am nächsten Tag erschienen keine Berichte in den Massenmedien. Es gab ein totales Verbot von oben. Nicht ein einziges Mal!

Unsere Beamten (im März! als die Truppen bei Kiew waren!) haben gehofft, dass sich alles wieder von selbst auflöst, und was ist das hier überhaupt für eine Selbstinitiative. 'Wenn wir sie brauchen, werden wir sie organisieren'."

In einem weiteren Telegram-Post stellte Prilepin wichtige, allgemeine Beobachtungen auf und lamentierte gleichzeitig, diese jeweils großen Schwächen der kulturellen Arbeit Russlands offenzulegen. Demnach gebe es keinen einzigen aktiven Kinoregisseur, der die Spezialoperation offen unterstütze. Es gebe keine Buchhandlung, die Gedichte oder Memoiren über den "russischen Frühling" [Anmerkung des Autors: Die Rückkehr der Krim nach Russland im Jahr 2014] im Angebot hätten – Prilepin gehe sogar davon aus, dass diese Händler nicht einmal wüssten, dass es solche Bücher gibt.

In fünf Monaten (Prilepin schrieb dies im Spätsommer 2022), aber auch in den letzten acht Jahren gab es kein einziges Theater, das sich an einem Stück ausprobierte, dass die russischen Kämpfer im Donbass thematisiert. Wohingegen im russischen Radio über die Spezialoperation keine Lieder gespielt wurden und erst unter vermeintlich enormem Druck, ein einziges solches Lied endlich gespielt wurde. Obwohl 50 zur Verfügung gestanden haben sollen, laut Prilepin.

Um nur einige, sehr hörenswerte und rührende Beispiele zu nennen: Da ist der russische Rapper Rem Digga mit seinen Liedern "Na Jug" ("Nach Süden", 2016) und "Donbass v Ognie " ("Der Donbass in Flammen", 2017). Oder Akim Apatchews und Daria Frejs Lied "Plywe katscha po Tyssyni" ("Der Strom der Theiß trägt eine Ente") vom letzten Juni, deren Musikvideo dazu vom RT-Team im befreiten Mariupol gedreht wurde. Das Schicksal der beiden Musiker wurde in einer RT Dokumentation verewigt.

Prilepins GRAD hilft, Diskriminierung ahnden zu lassen

In Zusammenarbeit mit Duma-Abgeordneten, wie Dmitri Kusnezow, befasst sich GRAD auch mit der systemischen Diskriminierung von Künstlern in Russland, die sich aufgrund ihrer Unterstützung für den Donbass, die militärische Sonderoperation oder allgemein für ihr Land veräußert haben. Wie im Fall des Fernsehschauspielers der russischen TV-Krimi-Serie "Die Spur", Georgi Teslja-Gerassimow, im Oktober letzten Jahres: Dieser wurde nach der Rückkehr von mittlerweile mehreren Reisen in die Volksrepublik Donezk – mit welchen er sich mit den dortigen Menschen solidarisieren wollte – anschließend von seinem Regisseur und Produzenten gefeuert.

Der offizielle Grund sei "das mittlerweile falsche Alter" des Darstellers, was Teslja-Gerassimow als schwachen Vorwand für den wahren Grund verstand. Umso trauriger, dass die TV-Serie "Die Spur" von Mitgliedern eines fiktiven Sonderdienstes, des sogenannten "Föderalen Expertendienstes", der in Moskau als Teil des russischen Innenministeriums zur Verbrechensbekämpfung eingerichtet wurde, handelt. Da hätte man diese Art Handeln gegenüber dem Schauspieler eher nicht erwartet.

Vielen Beobachtern innerhalb Russlands fiel das Handeln des Kulturministeriums und anderer, verwandter Ministerien plötzlich und endlich unangenehm auf: Man sah, dass die Fördergelder aus dem Staatsbudget oft an Kultureinrichtungen und Organisationen gingen, die einer liberalen, dem Westen nahen Weltanschauung entsprachen. Eines von vielen Beispielen ist die Diskriminierung des russischen Schriftstellers Alexander Pelewin, der von einer der drei größten Buchmessen Moskaus die Präsentation seines neuen Buches verweigert bekam.

Die zuständige Prüfungskommission sei anonym, die Gründe offiziell "unbekannt", die politischen Überzeugungen Pelewins jedoch nicht: Der Dichter und Autor ist ein offener Unterstützer des Donbass, war oft dort und wurde schließlich auch auf die ukrainische Feindliste "Mirotworez" gesetzt. Die Untersuchung des Verdachts auf politische Diskriminierung, bei der erneut GRAD mit Kusnezow Beistand leisten, läuft seit November 2022. Buchmessen werden staatlich gefördert – und zwar in diesem Fall durch das Ministerium für digitale Entwicklung, Kommunikation und Massenmedien der Russischen Föderation.

Noch im Frühling 2021 wurde Pelewin mit seinem Buch "Pokrow-17" mit dem Preis "Nationaler Bestseller" geehrt – ein jährlicher allrussischer Literaturpreis, der seit 2001 als einer der wichtigsten nicht-staatlichen Literaturpreise in Russland gilt.

Zeitmaschinen und Suchmaschinen

Der Frontman der sehr populären, 1969 gegründeten russischen Band Maschina Wremeni, Andrei Makarewitsch, hat nach dem Februar 2022 in seinen sozialen Medien Russland oft und wiederholend als "eine verlorene Nation" bezeichnet. Als Makarewitsch sah, wie sich innerhalb der russischen Bevölkerung Empörung über alle die in Protest ausgeflogenen Künstler sammelte, hatte er Folgendes zu sagen:

"Ich sehe das Gejammer über die Leute, die von hier weggegangen sind – wie Alla, Maxim, Tschulpan, Zemfira ... Es ist Russland, das euch Arschlöcher verlassen hat. Denn Russland sind sie, nicht ihr."

Makarewitsch war schon in Israel, als er dies von sich gab.

Die ehemalige CEO der russischen Suchmaschine Yandex, Jelena Bunina, verließ ihren Posten sowie Russland im März 2022 und ging auch nach Israel, mit der Begründung, "sie kann nicht weiter in einem Land leben, das Krieg mit seinen Nachbarn führt" – was auch die Meinung von Makarewitsch zusammenfassen würde. 

Kurz darauf kamen die Reaktionen aus der russischen Zivilgesellschaft, die je nach Auslegung natürlich auch hätten "bloße Trolle" sein können. Hier ist ein solches Beispiel von Anfang August 2022, in dem der Absender sich als ein in Israel lebender Russe ausgibt:

"Andrei, unser Land hat heute mit der Bombardierung des Gazastreifens begonnen, eines kleineren und schwächeren Landes, und wir müssen etwas tun. Wir müssen auf die Straße gehen und unserer Regierung sagen: Nein zum Krieg! Stoppen wir diese Gesetzlosigkeit!!!"

Nachrichten wie diese sprechen für sich. Anfang August 2022 bombardierte Israel tatsächlich den Gazastreifen. Makarewitschs Konten sollen mit solchen Nachrichten regelmäßig heimgesucht worden sein.

Zum Zeitpunkt des Beginns der militärischen Sonderoperation Russlands in der Ukraine hatte der bekannte russische Sänger seine Konzertsaison 2022 schon voll ausgeplant. Sein Vorhaben war es, den gesamten Herbst in der Heimat unterwegs zu sein, praktisch jede größere Stadt mit einem Konzert zu beglücken und natürlich auch große Gewinne zu erzielen. Scheinbar hatte er nicht damit gerechnet, dass seine abschätzige Einstellung zur eigenen "russischen Nation" so schnell Resultate bringen würde: Zügig wurden nämlich nach und nach in Städten wie Tscheljabinsk, Saratow, Tjumen und sogar in der als liberal geltenden Stadt Jekaterinburg all seine Konzerte abgesagt – auf Drängen der dortigen "Konsumenten". Darüber fing er dann auch an, sich öffentlich zu beschweren. 

Weitere Positionierungen russischer Künstler

"Verpisst euch aus Russland" war nur einer von Massen an Kommentaren, den wiederum der Frontmann der Musikgruppe Splin, Alexander Wassiljew, von russischen Nutzern erhielt, nachdem er auf einem Konzertauftritt Russland und den Kreml verurteilt und seinen Zuschauern eine Mitschuld für das, was in der Ukraine geschieht, angeheftet hatte.

Die Rockband Tschaif hingegen hat für Aufsehen gesorgt, indem sie noch im April 2022 für verwundete und hospitalisierte russische Soldaten spontan Konzerte spielte.

Die sowjetisch-russische Schauspielerin Lija Achedschakowa, die in der Vergangenheit auch den Aktivismus von Alexei Nawalny und viele weitere liberale Projekte in Russland unterstützt hat, sprach sich im letzten Jahr in ihren sozialen Medien für die ukrainischen Streitkräfte, für das Kiewer Regime aus. Des Weiteren äußerte sie regelmäßig ihre anti-russischen Gedanken – auf ähnlich niederem Niveau wie ihr Kollege Makarewitsch. Als es dann an der Zeit war, ein neues Theaterstück in Nischni Nowgorod aufzuführen, störten sich viele Bürger dort daran und richteten Beschwerden an das Theater und an die Stadtverwaltung. Die generelle Botschaft war, dass sie auf eine solche Art Kulturschaffende durchaus verzichten können. Der Druck wurde so groß, dass das Theater die Vorführung mit Achedschakowa absagen musste.

Die Popsängerin Julia Tschitscherina dagegen hat seit Anbeginn die Rückkehr der Donbass-Republiken nach Russland unterstützt, war dort oft zu Besuch, leistete humanitäre Hilfe während der Angriffe des Kiewer Regimes und sang für die Bevölkerung dort. Für ihre soziopolitische Einstellung wurde ihr der Auftritt bei einem FIFA-Event während der Fußball-WM 2018 in der Stadt Rostow am Don verweigert. Eine WM, die bekanntlich in Russland stattfand.

Bei der Pop-Sängerin Monetochka, dem bereits erwähnten Makarewitsch, dem Rapper Noize MC, dem Pop-Sänger Waleri Meladse und bei vielen anderen Kulturschaffenden ist aufgrund ihrer anti-russischen, politischen Gesinnung der gesetzliche Status eines "ausländischen Agenten" bereits vorhanden. Juristisch bedeutet das, dass wenn ein Künstler diese Einstufung bekommt, er auch davon disqualifiziert wird, Finanzierungen aus dem Kulturministerium zu erhalten. Eine Einnahmequelle, die für viele sehr lange äußerst lukrativ war. In diesem Sinne kam – manche wie Prilepin würden sagen: extrem verspätet, aber dennoch – die richtige Gesetzes-Entscheidung von der Regierung und der Duma. 

Ja, für Kriegsparteien, wie es de facto die EU und Russland füreinander sind, ist es seit Februar 2022 etwas müßig zu vergleichen, wer bei sich in den Massenmedien mehr Informationsfreiheit zulässt. Obwohl auf der persönlichen, individuellen Bürgerebene eindeutig Russland das Siegeszepter erhält, da regierungskritische Aussagen in russischen sozialen Medien sowie im Supermarkt an der Kasse oft auf absurd vulgäre Weise, ohne jegliche Art der Verfolgung oder Einschüchterung gemacht werden. Dem Kreml ist in seiner Kriegszensur wichtig, dass keine Denunzierung und Demoralisierung in größeren Medienanstalten oder bei Straßendemonstrationen stattfinden. Was der gemeine Bürger denkt oder publiziert, ist denen vollkommen egal, da es sich da sowieso um eine Minderheit handelt – wie regelmäßige Umfragewerte in Russland gut illustrieren. 

Russland heute aus der Vogelperspektive

Als Ausländer, der indessen vier Jahre in Russland lebt und an der Zivilgesellschaft teilnimmt, fällt mir eine alt-eingesessene, etablierte, dichte Zwischenschicht in der Gesellschaft auf. Eine Art "Pseudo-Elite" beziehungsweise ein westlich-liberaler Kultur-Pufferraum – geformt noch zu Boris Jelzins Zeiten –, der als verschleiernde Instanz agiert und sich im Prozess der beschleunigten Auflösung befindet. Selbstverständlich war und ist der Krieg in der Ukraine hierfür der unmissverständliche Katalysator gewesen. Die Spreu trennt sich vom Weizen geradezu in Echtzeit, vor aller Augen.

Diesen Pufferraum gab es lange Zeit zwischen dem Präsidenten und seinem engsten, historisch-patriotisch sensibilisierten, engeren Kreis auf der einen und dem russischen Volk auf der anderen Seite. Es handelt sich bei dieser Transformation um nichts Geringeres als einen epochalen Wechsel in Russland. Ein wirklich seltener historischer Prozess innerhalb der russischen "Mutter Kultur", der an Wichtigkeit den Jahren 1905 bis 1922 im Russischen Imperium/in der jungen Sowjetunion gleicht – und den Kampf um die Seele einer ganzen Nation umfasst.

Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Eine Zusammenarbeit mit RT besteht seit 2017. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram."

Quelle: RT DE

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