Reaktionen auf „Fake-News“-Skandal bei „Spiegel“: Nur die „Spitze des Eisbergs?“
Archivmeldung vom 20.12.2018
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 20.12.2018 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittDer ehemalige „Fake-News“-Reporter des Hamburger Magazins „Der Spiegel“, Claas Relotius, steht weiter im Fokus. „Ich bin nicht wirklich von diesem Skandal überrascht“, sagt Medienwissenschaftler Michael Meyen aus München im Sputnik-Interview. Medienberichte thematisieren den Fall. Zudem diskutiert das Netz eifrig. Sputnik auf Spurensuche.
„Als Medienforscher bin ich nicht ganz so überrascht, dass diese Art von Skandal passiert ist, weil wir es hier letztlich wahrscheinlich mit einer Spitze des Eisberges zu tun haben“, sagte Michael Meyen, Professor für Journalistik und Medienforschung an der Ludwig-Maximilians-Universität zu München, gegenüber Sputnik. „Wenn man sich anschaut, wie sich der Journalismus in Deutschland in den letzten 20, 30 Jahren verändert hat, dann sehen wir den Trend in Richtung Geschichten erzählen, Originalität und Exklusiv-Nachrichten in allen Medien.“ Die Trennung zwischen Nachricht und Meinung falle zunehmend weg. Daher liege es nahe, dass ein einzelner Journalist „Dinge erfindet, die es so in der Realität nicht gibt“.
Diese Entwicklung habe auch mit der gesteigerten Konkurrenz im Medienbetrieb zu tun, wie Meyen in seinem Buch „Breaking News – Die Welt im Ausnahmezustand – Wie uns die Medien regieren“ ausführlich analysiert hat.
„Als ‚Spiegel‘-Redakteur konkurriere ich mit den ganz normalen Menschen da draußen, die permanent kreative Ideen haben, die Aufmerksamkeit von Nutzern (und Lesern – Anm. d. Red.) zu binden“, betonte Meyen. Die Art, in der heute Journalismus betrieben werde, führe dazu, dass erfunden Geschichten „nicht mehr auffallen. Dass sie im Gegenteil als besondere Stücke auch ausgezeichnet werden können.“
Damit bezog sich der Münchner Medienwissenschaftler auf etliche Preise, die der ehemalige „Spiegel“-Reporter Claas Relotius für seine teils komplett erfundenen Beiträge in den letzten Jahren erhielt. „Die Debatte über Qualität im Journalismus beginnt grade erst. Insofern kann so ein Skandal sehr hilfreich sein, weil er diese Debatte beschleunigt.“
„Der Fall Relotius markiert einen Tiefpunkt in der 70-jährigen Geschichte des Spiegel“, schrieb das Blatt in seiner Online-Ausgabe in einer „Rekonstruktion in eigener Sache“.
Der „Deutsche Journalisten-Verband“ (DJV) reagierte „mit Betroffenheit“ auf die Nachricht. Relotius habe „offenbar jegliches Verantwortungsgefühl für sein Blatt und die Leserinnen und Leser gefehlt“, heißt es in einer aktuellen Pressemitteilung. Dass der „Spiegel“ momentan eine „Informationsoffensive“ fahre, werde begrüßt. Nur so lasse sich „verlorengegangenes Vertrauen der Leser zurückgewinnen“.
Der Medienbetrieb selbst macht die „Affäre Relotius“ zum Thema im Eigendiskurs.
„Zentraler Aufklärungs-Artikel ist eine sehr lange ‚Rekonstruktion‘ von (‚Spiegel‘-Redakteur – Anm. d. Red.) Fichtner“, schreibt beispielsweise der Medienjournalist und frühere „Spiegel“-Autor Stefan Niggemeier in einem aktuellen Beitrag für „ÜberMedien“. Fichtners „Artikel kommt schonungslos daher, aber in Wahrheit ist er vor allem gegenüber dem Kollegen schonungslos. Was die eigene Rolle des Nachrichtenmagazins und seiner Kultur in dem Debakel angeht, ist er stellenweise erstaunlich selbstgerecht.“
Das Hamburger Magazin hätte sich in einem deutlicheren, einem nüchternen, einem entschuldigenden Beitrag positionieren müssen, fordert ein aktueller Kommentar der „Salonkolumnisten“ . Der Fall sei „eine Breaking News. Eine bittere Enthüllung längst nicht nur in eigener Sache, (…) eine Bombe für die ganze Branche“. Insbesondere in der heutigen Zeit müsse die „Grenze zwischen Literatur und Journalismus“ nicht dünner, sondern breiter werden. Das ist eine ähnliche Forderung, wie sie auch Medienforscher Meyen im Sputnik-Interview stellt.
Auch für viele Nutzerinnen und Nutzer im Netz ist der „Spiegel“-Fake-News-Skandal ein großes Thema. Es wurde fleißig kommentiert. So wollte ein Nutzer nur eines vom Betrugs-Reporter wissen: „Warum?“
„Er hat sein Talent missbraucht“, meint der Nutzer „ASG News“ nüchtern.
Der Nutzer Valentin Gigli postete auf seinem Twitter-Account einen kurzen Interview-Ausschnitt von Relotius aus dem Jahr 2015. Wer „ganz genau“ hinhöre, könne schon einiges von der Arbeitsweise des Reporters heraushören, meinte er dazu in einem weiteren Kommentar.
„Herzlichen Glückwunsch an den Schwindler und Betrüger #ClaasRelotius“, schreibt ein anderer Internet-Nutzer in einem zynischen Kommentar. Er bezog sich auf den Journalisten-Preis „Reemtsma Liberty Award“, den Relotius 2017 für seine „Spiegel“-Reportage über syrische Flüchtlingskinder erhalten hatte. Das war einer seiner Fake-Beiträge.
Darauf antwortet ein weiterer User mit dem Hinweis, dem Ex-„Spiegel“-Journalisten sei bereits sein „Peter-Scholl-Latour-Preis“ aberkannt worden. Am Donnerstag wurde bekannt, dass Relotius freiwillig weitere vier Reporter-Preise von sich aus zurückgebe.
Zuspruch erhält Relotius von dieser „Spiegel“-Leserin, die sich wünscht, der junge „Fake-News“-Reporter würde eine zweite Chance bekommen.
Die Affäre sei „ein schwerer Schlag für alle Journalisten und Journalistinnen, die harte Arbeit leisten und weitreichend recherchieren“, kommentiert diese Nutzerin.
Die „Böse Zunge“ lobt den „Spiegel“ für seine Krisen-Kommunikation.
Diese wiederum kritisiert ein konkurrierendes Medium – nämlich die „Bild“-Zeitung – in Person von Patrick Markowski, dem leitenden Chef vom Dienst.
Das komplette Radio-Interview mit Prof. Dr. Michael Meyen zum Nachhören:
Quelle: Sputnik (Deutschland)