Ein Erklärungsversuch der Verfasser wegen Ungereimtheiten im Intensivregister
Archivmeldung vom 10.11.2020
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 10.11.2020 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Anja SchmittSeit März 2020 erhebt die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) zusammen mit dem Robert-Koch-Institut (RKI) Zahlen zur Belegung der Intensivstationen. Doch die Daten werfen Fragen auf: Gibt es doch mehr Betten, als Politik und Medien warnen? Und entspricht die Sorge um Personalmangel der Realität? Darüber berichtet das online Magazin "Sputnik".
Weiter heißt es diesbezüglich in einem Bericht von Marcel Joppa auf deren deutschen Webseite: "Die deutschen Medien verharren im Alarm-Modus. Dabei im Fokus: die Belegung der Intensivstationen hierzulande. Ob Springer-Presse oder Öffentlich-Rechtliche, es wird seit Wochen und Monaten davor gewarnt, die Intensivbetten seien knapp und bis zur Überbelegung könne es nicht mehr lange dauern. Hektisch werden dabei Zahlen eingeblendet, die eine Belegung der deutschen Intensivstationen von etwa 80 Prozent nachweisen sollen. Das ist auch völlig korrekt, die Einordnung in den Gesamtkontext fehlt aber zumeist.
Nur belegte Betten sind gute Betten?
Tatsächlich liegt die Belegungsrate der Intensivbetten bundesweit im Mittel immer zwischen 75 und 80 Prozent. Dies ist aktuell der Fall und dies war während der so genannten ersten Corona-Welle in Deutschland der Fall. Zu Zeiten der Influenza – speziell im Herbst 2018 – waren die Intensivstationen sogar ausgelasteter, als es derzeit der Fall ist. Der Grund liegt auf der Hand: Das auf Gewinne ausgerichtete deutsche Gesundheitssystem will sich freie Betten nicht leisten. Freie Betten im Kapitalismus wären wohl ein Widerspruch in sich. Die jüngst vom Bund an die Kliniken gezahlte Freihaltepauschale von über 560 Euro pro Tag und Bett lief Ende September aus, damit sind freie Betten den Krankenhäusern ein Dorn im Auge.
Doch aus der Belegungsgrafik und den erhobenen Zahlen ergeben sich einige Fragen, die wir der Divi übermittelt haben und zu denen wir schließlich einige Antworten bekommen haben. Diese lassen sicherlich einen Interpretationsspielraum. Zunächst interessierte uns Folgendes: Die Zahl der belegten Intensivbetten in Deutschland scheint seit August 2020 in etwa konstant zu bleiben, der Anteil der dort hospitalisierten Covid-19-Fälle steigt aktuell aber weiter an. Müsste dann nicht eigentlich auch die Gesamtzahl der belegten Betten zuletzt ansteigen?
Ein Sprecher der Divi antwortete darauf umgehend. Im Einzelnen heißt es dazu:
„Die relative Konstanz der belegten Intensivbetten erklärt sich unseres Erachtens dadurch, dass die Kliniken bereits dazu übergegangen sind, planbare bzw. nicht dringliche Eingriffe zu verschieben und Kapazitäten der Intensivstationen für Covid-19-Patienten freizuhalten.“
Jede Klinik versuche für sich, so der Divi-Sprecher weiter, trotz steigender Covid-Erkrankter die belegten Betten konstant zu halten und damit im Notfall noch einige Reserven zu haben. Soweit einleuchtend, wenngleich verschobene Operationen im Umkehrschluss zu Kollateralschäden führen können, da das Risiko von abgesagten Eingriffen nicht immer exakt eingeschätzt werden kann.
Es musste korrigiert werden…
Dringlich erschien uns im Zusammenhang mit der Grafik der Belegung auch folgende Frage: Anscheinend wurde im August die Anzahl der Intensivbetten nach unten korrigiert, wohingegen die Zahl der Notfallreserve an Intensivbetten erstmals angegeben wurde. Sind also bisherige freie Intensivbetten in die Notfallreserve übergegangen? Die Divi verneint. Vielmehr habe es seit August eine verbesserte Abfrage der Kapazitäten gegeben. Zudem gelten seit August wieder verpflichtende Personaluntergrenzen von maximal 2,5 Patienten auf eine Pflegekraft.
Anscheinend haben also mehrere Kliniken gemerkt, dass sie zur Einhaltung des Personalschlüssels einige Intensivbetten nicht mehr belegen dürfen, darum wurde die Gesamtkapazität nach unten korrigiert. Aber gilt dieser Personalschlüssel auch für die Notfallreserve? Und warum ist die Zahl der regulären Intensivbetten dann ab August nicht gleichgeblieben, während die Notfallreserve dann niedriger ausgefallen wäre? Die Antwort der Divi:
„Das Register fragt bei den meldenden Kliniken explizit (auch bei der Notfallreserve) Betten ab, die tatsächlich betrieben werden können, für die also auch das Personal vorhanden ist.“
Das würde also bedeuten, dass wir aktuell nicht nur Personal und Gerätschaften für die knapp 29.400 deutschen Intensivbetten haben, sondern auch für die zusätzlich etwa 12.400 Betten in der so genannten Notfallreserve. Zusammen ergibt dies eine sichergestellte Bettenkapazität von mindestens 41.800 Intensivbetten, die laut Divi und den Kliniken belegt werden könnten. Aktuell davon belegt sind knapp 21.000, das sind rund 50 Prozent.
Alles in allem sind also aktuell die Hälfte aller in Deutschland zur Verfügung stehenden Intensivbetten belegt. Warum dann die Diskussion, es fehle massiv an Personal in der Intensivpflege, wenn doch anscheinend noch über 20.000 Betten nach Vorgabe des Personalschlüssels belegt werden könnten? Übrigens gibt es die Diskussion um Personalnotstand bereits seit vielen Jahren – auch 2018 zu Zeiten der Grippewelle. Des Rätsels Lösung könnte ein Kniff der Krankenhausbetreiber sein: Schichten werden verlängert und Personal wird von anderen Stationen abgezogen. Auch gibt es Berichte von Fällen, in denen Auszubildende oder sogar Praktikanten als offizielles Fachpersonal eingestuft wurden, um den Personalschlüssel umsetzen zu können. Vor allem aber würden Operationen, die nichts mit Corona zu tun haben, wohl um bis zu 75 Prozent zurückgefahren werden.
Weitere Ungereimtheiten?
Einer weiteren Nebelkerze seitens der Kliniken wurde hingegen ebenfalls Anfang August ein Riegel vorgeschoben: Es geht um Low-Care- (niedrige Pflegeintensität) und High-Care-Betten (hoher Pflegeaufwand) auf den Intensivstationen. Zuvor konnten die Krankenhäuser ihre Kapazitäten in den beiden Bereichen getrennt voneinander angeben. Die Divi erklärt dies so:
„Hatte eine Klinik nun z.B. fünf Betten, auf denen sowohl Low-Care als auch High-Care möglich war, wurden in manchen Fällen fünf Low-Care-Betten sowie fünf High-Care-Betten gemeldet, also zehn Betten insgesamt, obwohl nur fünf verfügbar waren.“
Diese Diskrepanz sei mit der neuen Abfragemethode der Divi seit August ausgeräumt worden. Ein weiterer Grund für den generellen Rückgang der deutschen Intensivbetten Anfang des besagten Monats.
Aktuell befinden sich rund 3000 Corona-Patienten auf deutschen Intensivstationen. Immer wieder kommt in diesem Zusammenhang die Frage auf, wie viele dieser Patienten tatsächlich „nur“ mit der Diagnose Covid-19 intensivmedizinisch behandelt werden und wie viele ursprünglich mit einer anderen Diagnose (z.B. Herzinfarkt, Krebs) hospitalisiert wurden, in der Klinik dann positiv auf Sars-CoV-2 getestet wurden und nun als Corona-Intensivpatient in die Divi-Statistik eingehen? Hierzu die Einschätzung der Divi:
„Ein Großteil der ausgewiesenen Covid-19-Patienten sind primär WEGEN Corona auf der Intensivstation. Wir schätzen den Anteil der kombinierten Fälle derzeit auf unter zehn Prozent.“
Belastbare Zahlen sind derzeit aber schwierig. Die Weitergabe der Klinikdaten an RKI und Divi ist weitgehend freiwillig. Auch bedeutet die Diagnose Covid-19 für Kliniken eine größere Einnahmequelle, da die intensivmedizinische Corona-Betreuung mit höheren Abrechnungsbeträgen verbunden ist.
Das Fazit: Die offiziellen Zahlen veranlassen zum Nachdenken. Eine Diskussion über Personalnotstand oder bis knapp an die Grenzen gefüllte Intensivstationen ist entweder überflüssig oder Kapazitätsdaten wurden von Kliniken falsch weitergegeben. Warnungen seitens Politik und Medien sind zum jetzigen Zeitpunkt reine Polemik, wenngleich die weitere Entwicklung des Infektionsgeschehens in Deutschland abzuwarten bleibt. Alles in allem bleibt aber die Erkenntnis: Zahlen sagen mehr als tausend Worte. Und die aktuellen Divi-Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Panik ist unangebracht. "
* Die Meinung des Autors muss nicht der der Redaktion entsprechen.
Quelle: Sputnik (Deutschland)