«Aspies» können ihr Leben meistern
Archivmeldung vom 10.03.2009
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Freigeschaltet durch Oliver Randak«Gratulation - es ist Asperger!» Mit diesen Worten eröffnet der Arzt Tony Attwood seinen Patienten oft die Diagnose. Und er meint es durchaus ernst. Menschen mit Asperger-Syndrom, einer leichten Form des Autismus, haben für ihn ganz besondere Talente.
Menschen, die an dem Asperger-Syndrom erkrankt sind, jonglieren virtuos mit Fakten und Zahlen, sind Perfektionisten sowie ausdauernd und detailverliebt. Sie sind ungewöhnlich fasziniert von einem bestimmten Fachgebiet und außergewöhnlich sprachgewandt. Hilflos überfordert sind sie dagegen bei sozialen Kontakten.
Eins von 250 Kindern ist Studien zufolge von dieser Persönlichkeitsstörung betroffen, die nach ihrem Entdecker, dem Wiener Arzt Hans Asperger, benannt wurde. Gegenwärtig wird sie nur bei jedem zweiten dieser Kinder diagnostiziert. «Die Dunkelziffer ist sehr hoch», bestätigt die Vorsitzende des Bundesverbandes Autismus, Maria Kaminski.
Mit der Diagnose «Autist» können die meisten Nicht-Mediziner spätestens seit dem Film Rain Man mit Dustin Hoffman etwas anfangen. Das Asperger-Syndrom dagegen ist relativ unbekannt. Dabei kann es bei den Betroffenen und ihren Angehörigen genauso viel Leid verursachen.
Prominente Betroffene sollen Albert Einstein, Charles Darwin, Wolfgang Amadeus Mozart und Sir Isaac Newton gewesen sein. Auch Bill Gates ist erkrankt. Die meisten Asperger-Betroffenen sind nicht fähig, ein normales Gespräch zu führen, schreibt Attwood in seinem 2007 erschienenen Buch Ein ganzes Leben mit dem Asperger-Syndrom.
«Ich verstehe die Kinder um mich herum nicht. Sie machen mir Angst und verwirren mich», beschreibt die achtjährige Claire Sainsbury darin ihr Leid. Eine frühe Therapie könnte Kinder wie Claire aus ihrer Isolation herausholen. «Aspies» - wie sich viele von ihnen selbst nennen - können sich nicht oder nur sehr schwer in andere hineinversetzen. Attwood nennt es «Gedankenblindheit». Für Außenstehende wirken sie deshalb egozentrisch und überheblich.
Mit Zärtlichkeiten können die meisten überhaupt nichts anfangen. Eine Umarmung bedeutet meist eine unangenehme körperliche Annäherung. Sie schauen anderen ungern in die Augen und vermeiden Körperkontakt. Ihr Gang wirkt unbeholfen, ihre Bewegungen sind unkoordiniert. Typisch ist auch ihre Überempfindlichkeit bei bestimmten Geräuschen und Düften. In der Schule sind Asperger-Kinder beliebte Mobbing-Opfer. Später gelten sie als komische Käuze und Exzentriker, die oft wegen ihres ungepflegten Äußeren abstoßen.
Ursache der Persönlichkeitsstörung ist eine Fehlfunktion bestimmter Strukturen und Systeme in jenen Teilen des Gehirns, die für soziales Verständnis, Mitgefühl und Kommunikation zuständig sind. Forscher haben herausgefunden, dass das Syndrom erblich ist. So haben 50 Prozent der Väter auch leichte Anzeichen des Syndroms. Zudem wurde festgestellt, dass es bei nahezu zwei Drittel aller Betroffenen Komplikationen bei Schwangerschaft oder Geburt geben hat.
Wie bei anderen psychischen Störungen, die bei jedem Betroffenen anders verlaufen, ist die Diagnose auch bei Asperger nicht leicht. Intelligente Menschen können ihre Defizite leicht überspielen. Eine Reihe von Forschungen haben außerdem bestätigt, dass das Asperger-Syndrom häufig mit anderen Entwicklungsstörungen wie der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) oder Angststörungen verbunden ist, die das Grundleiden überdecken.
Asperger-Betroffene leiden häufig unter Selbstzweifeln und Depressionen, weil sie sich minderwertig fühlen. «Hinter einer durch hohe Schauspielkunst aufrecht erhaltenen Fassade liegen oft massive Probleme verborgen», sagt Rainer Döhle vom Selbsthilfeverein «Aspies».
Ohne Hilfe der Familie und von medizinischen Experten führen viele betroffene Erwachsene ein einsames, isoliertes Leben ohne Partner und Freunde. Die meisten landen in Behindertenwerkstätten oder in der Frühpensionierung, weil sie die sozialen Herausforderungen auf dem Arbeitsmarkt nicht bewältigen.
«Hat der Betroffene aber erst einmal eine Diagnose für sein Handicap, erlebt er das meist als eine Befreiung», sagt Döhle. «Der ‹Das-kenne-ich-auch-bei-mir-Effekt› beim Austausch mit anderen Autisten wirkt oft als Erleichterung.»
Die Umwelt bestimmt, wie sich eine Behinderung auswirkt, sagt der dänische Unternehmer Thorkil Sonne. Er hat die Firma Specialisterne mit gegenwärtig 40 autistischen Mitarbeitern aufgebaut. Der Firma kommt zugute, dass Menschen mit Asperger-Syndrom besonders detailgenau, ausdauernd und systematisch arbeiten. So werden die «Spezialisten» als Datensammler, Qualitätskontrolleure und Tester unter anderem für Computerprogramme eingesetzt.