Infektiologe Walger: Echter Ansteckungsschutz im Alltag kann Lockdown schnell ersetzen
Archivmeldung vom 04.12.2020
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Freigeschaltet durch André OttDer Bonner Infektiologe und Hygienespezialist Peter Walger fordert einen sofortigen Kurswechsel in der Corona-Politik, um die Pandemie ohne Lockdown wirksamer zu bekämpfen: "Wenn wir den praktischen Infektionsschutz auch im privaten Bereich stärken, Heimausbrüche verhindern, den öffentlichen Verkehr in den Blick nehmen, wäre auch heute schon viel mehr Corona-Normalität möglich", sagte Walger, Vorstandssprecher der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH), im Interview mit der "Neuen Osnabrücker Zeitung" (NOZ).
"Stattdessen werden Elfenbeinturm-Debatten geführt und Kultureinrichtungen geschlossen, in denen sich praktisch niemand ansteckt." Dass die täglichen Neuinfektionen auch einen Monat nach Schließung von Restaurants, Sport- und Kultureinrichtungen nicht sinken, "ist wenig verwunderlich, weil das Privatleben und der Verkehr ausgeklammert bleiben", sagte der Infektiologe und Intensivmediziner. "Es wird noch immer an den kritischen Bereichen vorbeidiskutiert." Das liege auch "an den Virologen und Epidemiologen, die unermüdlich vor den Gefahren durch Schulen und Aerosole warnen, obwohl weder Klassenzimmer noch feinste Luftpartikel eine epidemiologisch belegte nennenswerte Rolle bei der Virusverbreitung spielen", kritisierte Walger in der NOZ.
Zu den konkreten Forderungen des DGKH-Vorstandes gehört mehr Ansteckungsschutz im Verkehr: "Die Busfrequenz muss hochgefahren werden." Dass sich Schüler auf dem Schulweg in Bussen drängelten, sei "absolut nicht akzeptabel, nachdem sie artig den ganzen Schultag die Maske getragen haben". Die Verkehrsbetriebe könnten "zahllose Busse von Reiseunternehmen anmieten, die seit Monaten ungenutzt herumstehen", erklärte Walger. "Für Taxis braucht es Trennscheiben und Mundschutzpflicht."
Als weitere Möglichkeit für praktischen Infektionsschutz nannte Walger das Gurgeln mit Kochsalzlösungen oder ätherischen Ölen. Es gebe inzwischen viele wissenschaftliche Veröffentlichungen darüber, dass Gurgeln die Viruslast in Mund und Rachen verringere und die Ansteckungsgefahr eindämme. "Wenn Besucher und Personal in Pflegeheimen gurgeln, wird die Infektiosität von Corona-Positiven sofort für einen begrenzten Zeitraum vermindert. In den Familien könnte die Mundspülung wie das Zähneputzen in den Alltag integriert werden", sagte Walger und forderte die Politik zu einem Gurgel-Appell an die Bürger auf. Der Infektionsschutz im privaten Bereich sei entscheidend für die Corona-Eindämmung, betonte er, "denn dort stecken sich ja die allermeisten Menschen an".
Zugleich forderte Walger ein Ende "sinnloser" Lockdown-Maßnahmen: "Ich würde dafür plädieren, Konzertsäle, Museen und Bibliotheken unter Hygieneauflagen wieder zu öffnen." Die Kultureinrichtungen hätten funktionierende Hygienekonzepte, die auch befolgt würden. "Die Dauerschließung bis mindestens zum 10. Januar ist vor diesem Hintergrund nur schwer begründbar und unverhältnismäßig. Wut und Verzweiflung der Kulturschaffenden sind absolut verständlich", sagte der Praktiker und Experte.
"Für die Gastronomie, für Hotels und viele andere Veranstaltungen wie Kongresse könnte der Einsatz von Schnelltests eine Öffnung spätestens ab Januar ermöglichen, weil die gefährlichen Superspreader mit dem Instrument mit hoher Wahrscheinlichkeit entdeckt werden", stellte er sich gegen die Verlängerung des Lockdowns über den Jahreswechsel hinaus. "Restaurants, die Schnelltests anbieten, könnten auch wieder mehr Gäste einlassen - und endlich wieder kostendeckenden Umsatz machen!" Zumindest für Pflegekräfte und Ärzte müssten Schnelltests zur privaten Nutzung vom Staat bezahlt werden, "denn sie spielen beim Schutz vulnerabler Gruppen die entscheidende Rolle".
Die Hoffnung auf einen breiten Impf-Effekt schon zu Beginn des neuen Jahres hält Walger für gefährlich. "Ich kann nur eindringlich davor warnen, dieser Illusion zu erliegen und sich bis zum Impfstoff durchhangeln zu wollen. Erst das späte Frühjahr sorgt für Entlastung, wenn das Leben wieder im Freien stattfindet", sagte der Bonner Mediziner. Deswegen könnten die kommenden Monate ohne wirksameren Ansteckungsschutz katastrophal werden. "Die eigentliche Grippesaison beginnt ja erst Ende Dezember. Der Höhepunkt der Übertragungsrisiken für Atemwegserkrankungen steht also noch bevor", warnte Walger. Die Zahlen könnten dramatisch ansteigen, "wenn es die Politik nicht schafft, aus Fehlern zu lernen, und sich weiter von Scheindebatten ablenken lässt".
Quelle: Neue Osnabrücker Zeitung (ots)