FrauenärztInnen unersetzlich bei der Aufdeckung von Gewalt - Modellprojekt „MIGG“
Archivmeldung vom 08.10.2010
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 08.10.2010 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Manuel SchmidtDie Weltgesundheitsorganisation (WHO) konstatiert in ihrem Weltbericht „Gewalt und Gesundheit“ von 2002, dass Gewalt einer der größten gesundheitlichen Risikofaktoren ist.(1) Sie betont in diesem Zusammenhang die Schlüsselrolle von Ärzten bei der Aufdeckung von Gewalt. Das vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) finanzierte Modellprojekt MIGG will klären, wie niedergelassene ÄrztInnen für das Thema sensibilisiert und ausreichend geschult werden können. Das Thema soll insbesondere in das Praxismanagement integriert werden.
Auf dem DGGG-Kongress (5. bis 8. Oktober, München), verdeutlichte die Projektkoordinatorin Dr. Lydia Berendes, Institut für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Düsseldorf, warum besonders GynäkologInnen hier eine wichtige Rolle spielen.
Anhaltende körperliche und psychische Gewalt kann zu chronischen psychischen und psychosomatischen Erkrankungen führen. „Frauen mit Gewaltbelastung leiden in dreifach höherem Maße unter gynäkologischen, oft unspezifischen Beschwerden“, erklärte Dr. Lydia Berendes auf dem DGGG-Kongress. „Zudem stellt die Schwangerschaft einen besonderen Gefahrenpunkt dar. Die Frage nach Gewalter-fahrungen durch den behandelnden Frauenarzt ist unerlässlich - auch im Hinblick auf die Kinder, die durch indirekte und direkte Beteiligung betroffen sind. Da
GynäkologInnen ein besonderes Vertrauensverhältnis zu den Patientinnen haben, können sie eine Schnittstelle im Versorgungsnetz gewaltbetroffener Frauen verkörpern.“ Erste Versorgungsstudien zeigen, dass die Frauen von einer Intervention gesundheitlich profitieren.
Das durch das BMFSFJ geförderte Bundesmodellprojekt MIGG soll niedergelasse-ne Ärztinnen und Ärzte unterstützen. Gemeinsam mit Modellpraxen werden Strategien für eine optimale Betreuung von Gewaltopfern entwickelt.
Erste Ergebnisse des Projekts
An dem Modellprojekt haben sich bisher 67 ÄrztInnen in Düsseldorf, Kiel und München beteiligt. In einer Erstbefragung wurden der bisherige Umgang mit dem Thema physische und psychische Gewalt sowie der Bedarf nach Fortbildung eruiert. „Die Befragten erkannten die Bedeutung der Betreuung von Gewaltopfern als sehr hoch, schilderten aber mannigfaltige Barrieren im Praxisalltag und sahen gezielten Schulungsbedarf“, sagte Dr. Berendes (Abb. 1). Die Ärztinnen und Ärzte wurden gebeten, die drei für sie wesentlichen Gründe anzukreuzen, die sie daran hindern, das Thema Gewalt anzusprechen. Zwei Personen gaben an, dass sie keine Probleme damit haben.
Wesentlich sind also strukturelle Gründe (Zeit, Wissen um Gesprächsführung, Dokumentation, Weiterverweisung (fast 50%), sprachliche Barrieren) und patientenorientierte Gründe (Gefahr der Retraumatisierung). Unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Erstbefragung wurde ein Schulungskonzept mit folgenden Kernin-halten konzipiert: Gesprächsführung (Rollenspiele mit Simulationspatientinnen), Dokumentation und Psychotraumatologie, sowie Kenntnisse über das regionale Hilfenetzwerk.
Praxistaugliche Arbeitshilfen wie beispielsweise die „Med-Doc-Card©“ (2), als Behandlungs- und Gesprächshilfe für behandelnde ÄrztInnen, unterstützen den Implementierungsprozess ebenso wie eine einjährige Begleitung der Praxen mit Einzelfallsu-pervision sowie regelmäßige Praxistreffen mit Fallbesprechung und Kurzfortbildungen. „Dieser abholende Ansatz war für die beteiligten Praxen äußerst erfolgreich“, so die Projektkoordinatorin.
Ergebnisse der Abschlussbefragung
Die Ergebnisse der Abschlussbefragung zeigen, dass die Wahrnehmung und Ansprache gewaltbetroffener Frauen, denen Gewalt nicht nur akut sondern auch in der Vergangenheit widerfahren ist, in der Praxis deutlich gestiegen ist und spezifi-sche Handlungskompetenz erfolgreich vermittelt werden konnte. Sehr hilfreich waren neben Materialien zur Implementierung insbesondere auch direkte bilaterale Kontakte in das regionale Hilfenetzwerk, die entscheidend dazu beitragen, die Möglichkeiten zu helfen zu verbessern. Die Analyse der Fallevaluationen zeigt, dass psychische Gewalt im sozialen Nahraum zugenommen hat. Oftmals ist nicht nur bei akuten, sondern auch in Fällen früherer Gewalterfahrungen mehr Zeit in der Patientenversorgung erforderlich, was entsprechend im Praxismanagement berücksichtigt werden muss aber auch einen Hinweis auf notwendige Ressourcen gibt.
Fazit: Sowohl die erfolgreiche Sensibilisierung der Ärzteschaft, als auch die Vermittlung von Handlungskompetenz in der Dokumentation und Ansprache trägt dazu bei, dass bei vielen Frauen Erkrankungen vor einem Gewalthintergrund verstehbarer werden und zum Teil spezifische Hilfemaßnahmen im Sinne der Patientenversorgung eingeleitet werden können. Hierbei erfährt das Netzwerk eine tragende Bedeutung.
Quellen:
(1) World Health organization (WHO) (2002) (Hg): World Report on Health and Violence.
(2) Graß, H: Med-Doc-Karte®, Institut für Rechtsmedizin, Universitätsklinikum Düsseldorf.
Quelle: Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e.V.