Überraschende Zahlen: mehr chronisch Kranke wegen Gesundheitsfonds
Archivmeldung vom 14.10.2010
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Freigeschaltet durch Fabian PittichDie Zahl der Menschen mit schwerwiegenden chronischen Krankheiten ist zwischen 2007 und 2008 um medizinisch kaum erklärliche 4,6 Prozent gestiegen. In dieser Zeit wurde mit dem Gesundheitsfonds ein neuer Geldzuteilungsmechanismus für die Kassen eingeführt, der mehr Geld für chronisch kranke Patienten vorsieht. Dieser Anstieg geht aus Dokumenten des Bundesversicherungsamtes hervor, die dem TV-Magazin "Panorama" vom NDR vorliegen.
Bei 23 Krankheitsgruppen beträgt der Anstieg sogar über 10 Prozent; so verzeichnet das Bundesversicherungsamt etwa bei dem Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom ADS einen Anstieg um 14 Prozent (in absoluten Zahlen um 43.000 Patienten), bei Erkrankungen der Speiseröhre 16 Prozent (141.000 Patienten) und bei einer Diabetesart sogar 17 Prozent (30.000 Patienten). Experten gehen davon aus, dass es nicht tatsächlich mehr Kranke gibt, sondern dass die Zahlen Ergebnis der neuen Abrechnungsmöglichkeiten sind. Seit Ende 2007 - dem Zeitpunkt des plötzlichen Krankheitsanstiegs - haben die Kassen ein Interesse, möglichst viele Patienten als chronisch krank zu dokumentieren ("codieren") - auch wenn sie es vielleicht gar nicht sind.
Denn seit diesem Zeitpunkt ist den Krankenkassen bekannt, welche Krankheiten seitdem zu einer Extra-Geldausschüttung aus dem Gesundheitsfonds führen. Der Name dieses Systems: Morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich, kurz "Morbi-RSA". Insgesamt werden zurzeit allein für diese entsprechend codierten Krankheiten im Gesundheitsfonds 86 Milliarden Euro an die verschiedenen gesetzlichen Krankenkassen verteilt. "Die Steigerungen sind nur auf die Codierweise zurückzuführen und nicht darauf, dass hier wirklich die Krankheitsfälle angestiegen sind", so der Gesundheitsökonom Prof. Gerd Glaeske von der Universität Bremen, "Es werden Menschen durch die Diagnosen kränker gemacht, als sie es eigentlich sind." Prof. Glaeske sieht das Grundübel der Gesundheitsreform in dem Anreiz zum Krank-Codieren, also ihrem Risikostrukturausgleich, der weiterhin Abrechnungsgrundlage für die gesetzlichen Kassen ist. Einige Kassen geben auch Ärzten einen finanziellen Anreiz, ihre Patienten kränker zu codieren, als sie es wirklich sind.
"Panorama" liegen "Hausärzteverträge" zwischen Kassen und Ärzteverbänden vor, die dem Arzt einen Zuschlag von 20 Euro pro Patient und Quartal gewähren, wenn er diesen als chronisch Kranken codiert und behandelt. Zusätzlich kann der Gesamthonorartopf für die Ärzte einer Region - und damit das Einzelhonorar - durch eine höhere codierte Morbidität (Krankenstand) erhöht werden. Das Bundesgesundheitsministerium sieht auf Anfrage von Panorama keinen Zusammenhang zwischen dem Krankheitsanstieg und der Einführung der neuen Abrechnungsgrundlage für die gesetzlichen Kassen. Es führt den Anstieg vor allem auf die bessere Codierung von Krankheiten durch die Ärzte zurück. Die Vergütung der Ärzte auf Grundlage des Krankenstandes ihrer Patienten wird allerdings überdacht. Im Rahmen einer generellen Überprüfung des Honorarsystems der Ärzte wolle das Ministerium auch die "Berücksichtigung der Morbiditätsstruktur" überprüfen.
Quelle: NDR / Das Erste