Schizophrenie: Ein Wahrnehmungsfehler verursacht das Gefühl der Fremdbestimmung
Archivmeldung vom 19.12.2009
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittEin Fehler in der Wahrnehmung der eigenen Bewegungen verursacht bei Schizophrenie-Patienten das Gefühl der Fremdbestimmung, ein charakteristisches Symptom der Schizophrenie. Zu diesem Ergebnis kommen Wissenschaftler des Hertie-Instituts für klinische Hirnforschung (HIH) im Universitätsklinikum Tübingen in einer in BRAIN erschienenen Studie, die mit Beteiligung der Universitätsklinik für Psychiatrie entstanden ist.
Die Wissenschaftler wiesen erstmals einen direkten Zusammenhang zwischen einem Defizit in einem basalen Wahrnehmungsmechanismus für die eigenen Bewegungen und dem Symptom der gefühlten Fremdbestimmung nach. In Deutschland leiden rund 800.000 Menschen an Schizophrenie, die von psychotischen Krisen mit Wahnvorstellungen, Halluzinationen und Störungen der Denkabläufe gekennzeichnet ist. Ein charakteristisches, bislang nur unzureichend erklärtes Symptom dieser Erkrankung ist die Überzeugung der Patienten, dass die eigenen Handlungen fremdbeeinflusst werden (Ich-Störungen).
Die vorliegende Studie zeigt: je stärker ein spezielles Defizit in der Wahrnehmung der eigenen Bewegungen, um so ausgeprägter das Symptom der empfundenen Fremdbestimmung bei Schizophrenie-Patienten. "Unser Gehirn erstellt kontinuierlich interne Vorhersagen über die visuellen Konsequenzen der eigenen Bewegungen und vergleicht das Vorhergesagte mit den tatsächlich eintretenden Konsequenzen. Wenn vorhergesagte und tatsächliche Konsequenzen übereinstimmen, registriert es die Bewegungskonsequenzen als selbstverursacht; wenn sie nicht übereinstimmen, dann nimmt es eine externe Verursachung oder Beeinflussung an", beschreibt der Neurowissenschaftler Dr. Matthis Synofzik diesen Mechanismus. Bei Schizophrenie-Patienten sind diese internen Vorhersagen über die eigenen Bewegungen ungenau. Darum sind sich die Patienten unsicher, welche Bewegungen sie selbst verursacht haben und welche extern beeinflusst wurden.
Die Ergebnisse der Tübinger Wissenschaftler belegen erstmals die seit
längerem kontrovers diskutierte Vermutung, dass das Gefühl der
Fremdbeeinflussung bei Schizophrenie nicht primär auf Fehlern der
Gedanken und Überzeugungen beruhe, sondern auf einem Defizit in einem
basalen Wahrnehmungsmechanismus, nämlich ungenauen inneren Vorhersagen
über die Konsequenzen der eigenen Bewegungen. Aufgrund der ungenauen
Vorhersagen müssen Schizophrenie-Patienten um so mehr auf anderweitige,
potentiell irreführende Informationen und Überlegungen zurückgreifen,
so die Folgerung der Forscher.
Bereits 2005 hatte die Forschungsgruppe in einer Studie, in der die
Verarbeitung der visuellen Konsequenzen der eigenen Augenbewegungen
untersucht wurde, Hinweise darauf gefunden, dass bei Schizophrenie
interne Vorhersagen über die Konsequenzen der eigenen Bewegungen
ungenau sind (Lindner et al. 2005; Current Biology). Dieses sollte nun
in der aktuellen Studie anhand von Handbewegungen weitergehend
untersucht werden.
Die Probanden, 20 Schizophrenie-Patienten und 20 gesunde
Kontrollpersonen, sahen ihre Handbewegungen nicht direkt, sondern als
Projektion auf einer Spiegelfläche oberhalb ihrer Hand. Durch diesen
Aufbau konnte die visuelle Rückmeldung der eigenen Handbewegung
gegenüber der tatsächlich durchgeführten Handbewegung verdreht werden.
Im Vergleich zu den Kontrollprobanden konnten Schizophrenie-Patienten
nur eingeschränkt erkennen, ob die im Spiegel beobachtete Bewegung
gegenüber ihrer tatsächlich durchgeführten Bewegung verdreht war oder
nicht. Diese Beeinträchtigung bei der Wahrnehmung der eigenen Bewegung
war umso größer, je stärker die Patienten Gefühle der
Fremdbeeinflussung im Alltag erlebt hatten. Das zweite Experiment
sollte überprüfen, ob dieses generellere Wahrnehmungsdefizit speziell
auf einem Fehler bei den inneren Vorhersagen über die visuellen
Konsequenzen der eigenen Bewegungen beruht. Hier gab es einzelne
Testdurchläufe, in denen die Bewegungen, die die Studienteilnehmer
anschließend beschreiben sollten, nicht im Spiegel dargestellt wurden.
Sie erhielten also keine visuelle Rückmeldung und mussten sich bei den
Angaben über ihre Bewegung auf ihre innere Vorhersage verlassen. Das
Ergebnis: Schizophrenie-Patienten konnten nur sehr ungenaue Angaben
machen, wohin sie ihre Handbewegung ausgeführt hatten, wenn sie sich
nur auf ihre eigene innere Vorhersage verlassen mussten. Auch diese
Ungenauigkeit korrelierte mit dem Erleben von Fremdbeeinflussung im
Alltag: Das spezielle Wahrnehmungsdefizit war umso größer, je stärker
die Patienten Gefühle der Fremdbeeinflussung ihrer Handlung erlebt
hatten. Diese spezifische Ungenauigkeit korrelierte zudem auch mit der
Ungenauigkeit bei der Wahrnehmung der eigenen Bewegungen in dem ersten
Experiment.
In eingestreuten Testdurchläufen wurde beobachtet, dass die
Ungenauigkeit bei der Einschätzung der eigenen Bewegungen dazu führte,
dass sich die Patienten mehr auf die visuelle Rückmeldung über ihre
Handbewegungen verließen - selbst dann, wenn diese durch einen Spiegel
stark verdreht war.
Quelle: Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH)