Bochumer Forscher machen überraschende Entdeckungen zur Plastizität des erwachsenen Gehirns
Archivmeldung vom 04.07.2006
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittNach einer Verletzung des Gehirns werden die umgebenden Nervenzellen vorübergehend wieder jung: Bis zu einem Jahr lang lassen sich Prozesse beobachten, die zu einer "Neuverdrahtung" im Gehirn gehören. Das haben Dr. Dimitrios V. Giannikopoulos und Prof. Dr. Ulf T. Eysel (Neurophysiologie, Medizinische Fakultät der RUB) in einer Studie herausgefunden.
Die Forscher maßen die Aktivität einzelner Nervenzellen der Sehrinde erwachsener Katzen und legen jetzt detaillierte Daten über den Zeitverlauf, das Ausmaß und die Möglichkeiten und Grenzen der Neuverdrahtung des Gehirns vor. Ihre
Ergebnisse sind in der aktuellen Ausgabe der Proceedings of the National Academy
of Sciences of the United States of America (PNAS)
veröffentlicht.
Unklar: Wie plastisch ist das erwachsene
Gehirn?
Jeder weiß, dass frühkindliche und jugendliche Gehirne sehr
flexibel sind. "Sie besitzen ohne Zweifel die Fähigkeit zur leichteren
Anpassung", beschreibt Prof. Eysel. "Nach Verletzungen und bei Erkrankungen des
Nervensystems ist die Kapazität für eine Rehabilitation durch eine
Reorganisation dann vergleichsweise groß." Wie es damit im Gehirn Erwachsener
steht, ist nicht so klar. Trotz vieler Ergebnisse, die die Plastizität des
erwachsenen Gehirns gezeigt haben, gaben neuere Befunde mit modernen
bildgebenden Methoden auch Hinweise, dass die Kapazität zur Reorganisation beim
Erwachsenen sogar verschwindend gering sein könnte.
Neu-Verdrahtung
breitet sich wellenförmig aus
Um die Fähigkeit zur Reorganisation des
erwachsenen Gehirns exakt zu bestimmen, maßen Dr. Dimitrios Giannikopoulos und
Prof. Dr. Ulf Eysel die Aktivität von einzelnen Nervenzellen der Sehrinde
erwachsener Katzen. Nach umschriebenen Schädigungen der Netzhaut erfolgt
innerhalb von Wochen bis zu einem Jahr eine weitreichende Umorganisation der
Sehrinde. Die erblindeten Gehirnbereiche werden wieder aktiviert, die Zuordnung
von Auge und Gehirn erfährt eine grundsätzliche Neuordnung. "Die Neu-Verdrahtung
wandert ähnlich einer Welle langsam über Wochen vom gesunden Randbereich immer
weiter in die 'erblindete' Gehirnregion", erklärt Dr. Giannikopoulos. Die
betroffenen Nervenzellen ähneln vorübergehend in einzelnen Eigenschaften den
Zellen im frühen Leben nach der Geburt. Die nach der Schädigung zuerst "blinden"
Zellen werden mit ungeschädigten Netzhautbereichen neu verbunden. Dabei sind sie
überaktiv, haben große Reizareale ("rezeptive Felder") und ihre
Analyseleistungen sind stark vermindert.
Erstaunlich plastisch und doch
begrenzt
Nach der Neuverdrahtung normalisieren sich die Zellen, erhalten
wieder rezeptive Felder normaler Größe und gewinnen ihre Analyseleistungen -
wenn auch z. T. abgeschwächt - zurück. Die Zahl der an der Neuverdrahtung
beteiligten Zellen im geschädigten Gebiet liegt je nach Entfernung vom gesunden
Randbereich zwischen zehn und fast 100 Prozent. "Die Arbeit bestätigt mit neuen
Einzelheiten zum Verlauf über lange Zeit, dass die Plastizität des erwachsenen
Gehirns eine erstaunliche grundsätzliche Kapazität aufweist, dass die
Wiederherstellung von Funktionen jedoch in ihrer Reichweite und im Ausmaß der
wiedererlangten Analyseleistungen gegebenenfalls von Strukturvoraussetzungen des
Gehirns begrenzt werden", fasst Prof. Eysel zusammen.
Später
Reorganisationsschub
Neben den neuen Erkenntnissen über den Zeitverlauf
und das Verhalten der Zellen während der Umverdrahtung ist die Entdeckung einer
späten Komponente im Reorganisationsprozess, die erst zwischen drei Monaten und
einem Jahr abläuft, für die Forscher hochinteressant. In dieser späten Phase
erhöhte sich die Zahl der an der Reorganisation beteiligten Zellen tief im
geschädigten Bereich noch einmal von zehn bis 20 auf 40 bis 50 Prozent. Dieser
Befund unterstreicht, daß zusätzlich zu den bekannten, guten Erfolgen der
Frührehabilitation eine weitere Verbesserung und Stabilisierung in späteren
Phasen nach einer Schädigung des Gehirns erfolgt.
Quelle: Pressemitteilung Informationsdienst Wissenschaft e.V.