Neue Erkenntnisse zur "Verdrahtung" des Gehirns
Archivmeldung vom 10.08.2006
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittDie Wissenschaftler Claus Hilgetag, Professor of Neuroscience an der International University Bremen (IUB) und Marcus Kaiser, Academic Fellow an der University of Newcastle upon Tyne (UK), haben neue Erkenntnisse über die Organisation des Gehirns gewonnen. Den Wissenschaftlern gelang der Nachweis, dass lange Nervenfaserverbindungen für die Gehirnfunktion ebenso unerlässlich sind wie kurze Verbindungen.
Langfristig können diese Erkenntnisse die Diagnose und Behandlung von Erkrankungen wie Alzheimer oder Autismus erleichtern.
Nach der bisherigen Theorie ist die Effizienz des
Nervensystems auf möglichst kurze Verbindungen zwischen Nervenzellen
zurückzuführen. Kaiser und Hilgetag kommen in ihrer Studie zu neuen
Erkenntnissen: lange Verbindungen sind für eine effiziente Gehirnfunktion
teilweise sogar besser. Die Studie ist in der aktuellen Ausgabe von PLoS
Computational Biology ("Nonoptimal Component Placement, but Short Processing
Paths, due to Long-Distance Projections in Neural Systems", Volume 2 | Issue 7 |
JULY 2006) veröffentlicht. http://dx.doi.org/10.1371/journal.pcbi.0020095
Die
Untersuchung basiert auf umfangreichen Analysen quantitativer neuro-anatomischer
Daten von Primaten- und Wurmgehirnen. Meist werden in der Gehirnforschung
Primatengehirne untersucht, wegen ihrer evolutionären Vergleichbarkeit mit dem
menschlichen Gehirn. Die vorliegende umfassende Studie bezieht auch das
Nervensystem eines wirbellosen Tieres ein. Die Forscher demonstrieren, dass
viele kurze hintereinandergeschaltete Nervenfasern gegenüber längeren Fasern in
Bezug auf Effizienz und Zuverlässigkeit in der Informationsübertragung im
Nachteil sind.
Marcus Kaiser erklärt das Prinzip: "Es ist wie beim Zugfahren, mit einer Direktverbindung kommt man schneller an. Häufiges Umsteigen verlängert die Reise, und es besteht die Gefahr, einen Anschluss zu verpassen. Dasselbe gilt im Gehirn." Gehirnscans von Alzheimerpatienten und Autisten zeigen beispielsweise einen deutlichen Mangel an weitreichenden funktionellen Interaktionen.
In langwierigen Computerrechnungen wurde der weltweit umfangreichste Datenbestand zur Länge von Nervenfasern und neuronalen Verbindungen (Axonen) im Primatengehirn und im Nervensystem des Wurms Caenorhabditis elegans untersucht. Überprüft wurde, wie weit sich die Gesamtlänge vorhandener Nervenverbindungen durch eine Reorganisation verringern ließe. Dazu führte ein Programm Milliarden Rechenschritte aus, in denen potenzielle Neuanordnungen der verbundenen neuronalen Komponenten überprüft wurden. Es zeigte sich, dass aufgrund der überraschend großen Anzahl langer Nervenfasern eine bis zu 50 prozentige Verkürzung der neuronalen Verdrahtung möglich wäre.
"Im Allgemeinen wird das Gehirn mit einem Computer verglichen, dessen optimale Wirksamkeit durch eine Vielzahl kurzer Verbindungen zwischen den Nervenzellen bestimmt wird. Unsere Forschung zeigt jedoch, das die Kombination unterschiedlicher Verbindungslängen zwischen den neuronalen Komponenten wichtig ist," erklärt Claus Hilgetag. Diese Beobachtung bestätigt auch eine Vermutung, die der Computerpionier John von Neumann bereits vor 50 Jahren zur Arbeitsweise des Gehirns aufgestellt hat.
Langfristig können
diese Erkenntnisse bei der Diagnose und Behandlung von neurologischen
Erkrankungen wie Alzheimer oder Autismus helfen, bei denen funktionelle
Interaktionen im Gehirn gestört sind.
Quelle: Pressemitteilung Informationsdienst Wissenschaft e.V.