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Erfolgreich mit Autisten

Archivmeldung vom 25.08.2008

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 25.08.2008 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Oliver Randak

Menschen mit Autismus sind meist nur beschränkt teamfähig und weniger belastbar - dafür erledigen sie manche Jobs mit mustergültiger Präzision. Ein dänisches IT-Unternehmen stellt deshalb bevorzugt Autisten ein. Um herauszufinden, wo ihre Stärken liegen, lässt der Chef Bewerber mit Lego spielen.

Hochkonzentriert sitzt Christian Jensen vor dem Computer. Vor ihm auf dem Bildschirm ein Straßenplan von Kopenhagen. Daneben auf einem Grundriss viele bunte Linien. Jensen vergleicht, beschriftet, misst aus. Für das dänische Telekommunikationsunternehmen GlobalConnect berechnet er, wo in der Erde Kabel verlaufen, damit diese bei Bauarbeiten nicht getroffen werden. Die Arbeit erfordert so viel Aufmerksamkeit, dass er nur wenige Stunden durchhält.

 

Jensen kann sich keine Unachtsamkeit leisten. Wenn dem 30-jährigen Dänen nur ein Fehler unterläuft und eine Leitung beschädigt wird, kann das bis zu 10.000 Euro kosten. Doch Jensen passt immer auf, er liegt nie daneben. Er erledigt die Aufgaben besser als jeder andere. Denn Jensen hat das Asperger-Syndrom, eine milde Form des autistischen Spektrums. Und gerade deshalb hat er den Job als IT-Berater bekommen.

Autisten nicht als Behinderte zu sehen, sondern ihre besonderen Fähigkeiten zu nutzen. Das ist die Idee des dänischen IT-Unternehmens Specialisterne, bei dem Jensen für Kunden wie GlobalConnect die Kabellegung plant. Übersetzt bedeutet der Name "Spezialisten" und genau das sind Autisten.

Sie sind oft auf einzelnen Gebieten hochbegabt und haben ein weit besseres Gefühl für Details als Nicht-Autisten. Fehlerlos endlose Zahlenkolonnen zu überprüfen, ist für Autisten kein Problem. Sie können für Software-Tests eingesetzt werden oder Mobiltelefone auf ihre Funktionen hin testen. Schwer hingegen fällt ihnen Teamarbeit. Empathie zählt nicht zu ihren Stärken. In einer Arbeitswelt, die Teamfähigkeit meist ganz oben in jedes Anforderungsprofil schreibt, haben sie kaum eine Chance - außer bei Specialisterne.

Das Unternehmen gegründet hat Thorkil Sonne, nachdem die Ärzte bei seinem Sohn eine bestimmte Form von Autismus, den kindlichen Autismus, festgestellt hatten. Eines Tages zeigte ihm der Spross eine Zeichnung. Sonne staunte nicht schlecht. Der damals Siebenjährige hatte am Tag zuvor in einem Europa-Atlas geblättert und die Seitenübersicht aus dem Gedächtnis nachgezeichnet. Jede Seitenzahl stimmte. Jedes Land war an der richtigen Stelle.

 

"Ich erkannte, dass Autismus mehr sein muss, als eine Behinderung", erzählt der großgewachsene Däne. Kurze Zeit darauf, im Jahre 2004, kündigte er seinen gut bezahlten Job bei einem Telekommunikationskonzern, belastete sein Haus mit einem Kredit und startete mit Specialisterne. Er hatte nicht viel Geld und keine Ahnung, wie man ein Unternehmen führt. Aber er hatte einen festen Willen: "Ich wollte Menschen wie meinem Sohn eine Zukunft schaffen."

Vier Jahre später, im Jahre 2008 arbeiten bei Specialisterne 37 Autisten. Die Räume liegen am westlichen Stadtrand von Kopenhagen, in der Bürostadt Ballerup. Im Büro ist die Atmosphäre ruhig und entspannt. Auf dem Boden liegt dicker blaugrauer Teppichboden, der störende Geräusche schluckt. Die Türen schließen leise.

Eine ruhige Umgebung ist wichtig. Autisten können Reize, die auf sie einströmen, nicht ausblenden. Sie nehmen alles auf einmal in der vollen Stärke wahr. Auf Dauer strengt das sehr an. Und so sind Autisten meist schon nach ein paar Stunden Arbeit völlig ausgepowert. Ein Vollzeitjob wäre für einen Autisten kaum zu bewältigen. Bei Specialisterne haben viele Mitarbeiter deshalb einen Tag mehr pro Woche frei, um sich zu regenerieren.

Obwohl Sonnes Mitarbeiter nur Teilzeit arbeiten, gehen sie mit einem Bruttogehalt zwischen umgerechnet 2200 und 3500 Euro im Monat nach Hause. Der dänische Staat bezuschusst das Projekt. Sonne jedoch bekommt vom Staat keine Hilfe. Ungefähr 100.000 Euro Privatvermögen hat er bisher in die Firma investiert. Noch hat sie keine schwarzen Zahlen geschrieben. Doch Sonne ist zuversichtlich: "Wir sind nah daran, Gewinne zu machen."

 

Kunden erwarten "Rain Man"

Manchmal ist es schwierig, Kunden davon zu überzeugen, dass Autisten eine Arbeit besser erledigen können als gewöhnliche Mitarbeiter. "Sie glauben, dass Behinderte einen billigen Job machen können, aber eben nicht so gut", sagt der Gründer. "Meine Geschäftspartner haben oft den Film 'Rain Man' gesehen. Sie sind dann verwundert, wenn ich sage, dass wir die Aufgabe besser erledigen können, gerade weil unsere Mitarbeiter behindert sind."

 

Andere wiederum denken, Sonne stelle Autisten nur aus Marketinggründen ein, um nach außen sozial zu wirken. "Ich will Menschen mit einem autistischen Spektrum eine Zukunft geben", weist der Specialisterne-Chef derlei Vorwürfe zurück. Aber natürlich möchte er mit der Geschäftsidee auch Geld verdienen. "Da sind Menschen mit bestimmten Fähigkeiten und ein Unternehmenssektor, der genau diese Fähigkeiten braucht. Warum soll man das nicht verbinden?"

Einige namhafte Kunden hat Specialisterne bereits. Microsoft, der schwedische Finanzdienstleister Nordea und Dänemarks größtes Telekommunikationsunternehmen TDC gehören dazu. GlobalConnect hat sich noch nicht endgültig dafür entschieden, mit Specialisterne zusammenzuarbeiten. Seit Anfang Mai läuft die Testphase.

Doch Eddy Krage von GlobalConnect ist von der Zusammenarbeit mit dem Autisten Christian Jensen bereits begeistert: "Er würde nie ein Kabel falsch beschriften. Das würde ihm sofort auffallen", sagt er. Jensen hat den Auftraggeber außerdem mit immer neuen Verbesserungsvorschlägen und Lösungsansätzen überzeugt. "Autisten sind definitiv ein Potential, das noch viel zu selten genutzt wird", resümiert Krage.

Tatsächlich hatte der Manager lange Schwierigkeiten, die richtigen Leute für den Job zu finden. "Die Abläufe wiederholen sich ständig, dennoch braucht es Detailgenauigkeit", sagt Krage. Bevor er mit Specialisterne zusammenarbeitete, hatte er Leute, die nicht wirklich motiviert waren und die Aufgabe als unbeliebte Pflicht empfanden. Autisten seien hingegen viel motivierter und könnten den Job genauso schnell, wenn nicht schneller erledigen, als Nicht-Autisten.

Doch nicht alle Autisten eignen sich wie Jensen für einen Job bei Specialisterne. Rund die Hälfte der Bewerber muss Sonne ablehnen. Anfangs fiel ihm das schwer. "In jedem einzelnen Bewerber sah ich meinen eigenen Sohn", erzählt er. Mittlerweile trifft Sonne deshalb keine Personalentscheidungen mehr. Das übernehmen jetzt Manager und die pädagogischen Berater.

Die bekommen demnächst möglicherweise mehr zu tun. Aus 33 Ländern hat Sonne bereits Anfragen von Betroffenen. Wann er mit Specialisterne in ihr Land komme, wollen sie wissen. Bislang gibt es wenig vergleichbare Einrichtungen in anderen Staaten. In den Niederlanden existiert ein vergleichbares Unternehmen namens Autest, in Schweden heißt das Pendant Left is Right. Die skandinavischen Nachbarn holten sich sogar Rat bei Sonne.

Der plant bereits mit Hochdruck eine Dependance in Großbritannien. "Wir sind schon sehr weit mit dem Projekt. Da werden wir als nächstes hingehen", sagt der Entrepreneur. Besonders in Deutschland sieht er großen Bedarf. In welcher Stadt er einen Ableger für möglich hält, kann er noch nicht sagen. Es kommt darauf an, wo der erste große Kunde sitzt: "Wenn es Siemens ist, gehen wir nach München. Wenn es Vodafone ist, nach Düsseldorf."

Zudem plant er Niederlassungen in Schweden, den USA, Australien und sogar Indien. "Ich könnte mir vorstellen, eine Art soziales Franchise zu gründen. Wir haben die Erfahrung, aber brauchen lokale Geschäftsleute, die unser Modell in ihrem Land umsetzen."

Manche Betroffene können es kaum erwarten. Einige Dutzend wollten sogar nach Dänemark ziehen, um für Specialisterne zu arbeiten. "Aber Menschen mit Autismus tut es nicht gut, das gewohnte Umfeld zu verlassen", seufzt er. Und so musste er den Interessenten leider sagen, dass sie warten müssen.

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