Das vergessliche Internet: Sollen digitale Daten ein Verfallsdatum erhalten?
Archivmeldung vom 29.01.2009
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 29.01.2009 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Oliver RandakDie Idee, dass alle digitalen Daten im Netz ein Verfallsdatum bekommen sollen und ablaufen können, entfachte unter Internet-Experten eine heftige Diskussion. Und diese Idee kommt nicht irgendwo her: Menschen wie Harvard-Professor Viktor M. fordern das "vergessliche Internet".
Viele jüngere Leute haben ein entspanntes Verhältnis zur Datenspur, die sie im Netz hinterlassen. Doch was ist, wenn sie fünf oder zehn Jahre später Kompromittierendes unter die Nase gehalten bekommen?
Grundsätzlich
sind digitale Informationen ganz anders verfügbar. Ein Buch oder eine
Zeitung kann irgendwann zerfallen oder verloren gehen. Vor allem stehen
solche Dinge an einem bestimmten Ort, wo man alles durchlesen muss, um
fündig zu werden. Heute gibt man einen Begriff in eine Suchmaschine
ein, und hat eine Volltextsuche für quasi das gesamte Web. Und digitale
Informationen verfallen praktisch nicht. Infos verselbstständigen sich,
wenn sie einmal online sind, werden auf andere Websites kopiert. Zu
allem Überfluss landen sie auch noch bei Google im Cache.
Wenn ich nun in Zukunft jedes Dokument beim Speichern mit einem Verfallsdatum versehen müsste, genauso wie jetzt schon mit einem Dateinamen, sensiblisiert mich das. Bei Dateien, von denen ich von vornherein weiß, dass sie wichtig sind, kann ich zum Beispiel 50 Jahre auswählen. Bei anderen kann ich gleich sagen: ein Jahr, und später muss ich mich auch nicht fragen, was die Datei "Weihnachtsliste_Entwurf_3x_2.doc" denn jetzt genau enthält. Sie ist dann einfach mal weg - weil ich das so will. Auch bei Internetsuchen würde ein Verfallsdatum helfen. Ich könnte zum Beispiel eingeben, dass meine Google-Suche "gar nicht" oder nur einen Tag oder etwa 99 Jahre lang gespeichert werden soll. Denn Google speichert sämtliche Suchanfragen, um die Ergebnisse zu optimieren.
Bleiben
wir bei Google: Wir wissen nicht für die Zukunft, wer an der Macht ist,
sei es in Unternehmen, sei es politisch. Google reklamiert für sich,
mit seine gespeicherten Daten "no evil" zu tun. Was nun aber, falls ein
skrupelloses Unternehmen Google aufkauft - und alle gesammelten Infos
skrupellos zum wirtschaftlichen Vorteil ausnutzt? All das spricht für
mich für ein vergessliches Internet!
Es ist ein Menschheitstraum - ein globales Gedächtnis, das nichts
vergisst. Keine Information geht verloren, kulturelle Eigenheiten
werden bewahrt. Es wäre die Chance, dass Wissen die Zeit überdauert.
Welch ein Verlust wäre es, wenn Fotos der Zeitgeschichte, ganze
Zeitungsarchive oder aber Einträge und Diskussionen in einem
Weltlexikon unwiederbringlich ins digitale Nirwana verschwinden? Er
wäre unermesslich.
Können wir es uns leisten, dass Wissen verloren geht? Nein. Schon
jetzt ist vorenthaltenes Wissen ein globales Problem, wenn man an das
Klimaproblem und den missglückten Technologietransfer von den
Industrieländern in die sogenannten Entwicklungsländer denkt.
Um einen aktuellen Fall aufzugreifen, kann man auf die Website der
US-Regierung verweisen. Seit der Machtübernahme von Barack Obama sind
jegliche Hinweise auf seinen Amtsvorgänger George W. Bush getilgt.
Darunter auch eine Broschüre mit dem Titel "100 Informationen über die
Bush-Regierung, die Amerikaner nicht kennen". Diese Informationen
stehen der Weltöffentlichkeit jetzt nicht mehr zur Verfügung, der Link
ist verwaist, die Broschüre unerreichbar. Wie soll man beurteilen, ob
es sich dabei um nützliche Informationen gehandelt hat? Zumindest eine
freie Wahl, ob man dieses Wissen nutzen will, muss gewährleistet werden
- das ist die große Chance, die uns die Technik bietet.
Das
Internet kann und muss eine emanzipatorische Funktion übernehmen,
Transparenz schaffen und Demokratisierung fördern. Wissen ist Macht -
und wir sollten sie verteilen.