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Neue Westfälische (Bielefeld): Land ohne Führung

Archivmeldung vom 19.06.2010

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 19.06.2010 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt

Der Begriff Führung ist in Deutschland mit Vorsicht zu verwenden. Historisch zu sehr belastet ist die Vorstellung, dass einige wenige, im schlimmsten Fall nur einer, bestimmen, wo es lang geht. Dennoch braucht ein 80-Millionen-Volk, ein Land mit der Wirtschaftskraft Deutschlands so etwas wie Führung und Orientierung. Selbst ein demokratischer Diskurs, der am Ende zum bestmöglichen Ergebnis führt, muss geleitet werden.

Genau daran aber mangelt es: Die Bundesregierung samt Kanzlerin ist zerstritten, kann sich nicht auf eine klare Linie einigen und findet stets nur den kleinsten Kompromiss, der der Sache nicht gerecht wird. So ist es beim Sparpaket gelaufen, so schwankte die Regierung bei den Opel-Hilfen, so umstritten ist die Wehrpflicht und auch für die Gesundheitsreform ist nicht der große Wurf zu erwarten. Einen Bundespräsidenten hat Deutschland nach der Flucht Horst Köhlers aus dem Amt nicht mehr und es wird Monate dauern, bis sich sein Nachfolger so viel Reputation erworben hat, dass er die Richtung weisen könnte. In NRW tun sich die Parteien enorm schwer, eine Landesregierung zu bilden, die stabile Verhältnisse bietet. Die Katholische Kirche fällt wegen des falschen Umgangs mit den endlich aufgeflogenen Missbrauchsfällen und wegen der internen Schlammschlachten um Ex-Bischof Walter Mixa als glaubwürdige Mahnerin aus. Die Evangelische Kirche hat mit dem unrühmlichen Ende von Margot Käßmann als EKD-Ratsvorsitzender eine wichtige Stimme in der Öffentlichkeit verloren. Ihr Nachfolger Nikolaus Schneider wird kaum wahrgenommen. Wirtschaft und Finanzbranche haben ihre Glaubwürdigkeit längst verspielt, gelten nur noch als Raffkes in eigener Sache. Und die Kulturszene ist ausgeschaltet, weil damit beschäftigt, die Sparmaßnahmen allerorten zu verkraften. Nirgendwo also eine gestaltende Kraft derzeit in Deutschland. Keine Person, keine Institution, die vorangeht oder wenigstens von hinten anschiebt. Kein Wunder, dass viele Bürger nur noch über "die da oben" schimpfen. Und das in einer Phase, in der vor allem die Mittelschicht zunehmend von Sorgen, vielleicht sogar Ängsten heimgesucht wird, weil sie den Eindruck hat, wichtige Entwicklungen nicht mehr beeinflussen zu können. Das Rückgrat der Gesellschaft schrumpft, sinkt überwiegend in Armut ab. Das hat das Institut für Wirtschaftsforschung in einer umfangreichen Untersuchung jetzt erneut festgestellt. Ein Ruck in den Eliten, in den möglichen Führungszirkeln ist erforderlich, ein Bewusstseinswandel. Zu sehr gilt nur als erfolgreich, wer Einzelinteressen verfolgt. Gemeinsinn ist nicht sexy. Verantwortliche müssen Verantwortung für mehr als sich selbst übernehmen, eigene Interessen mal zurückstellen, nicht gleich alles hinwerfen oder nicht nur den strategischen Vorteil der eigenen Partei verfolgen. Und das Publikum sollte gute Eliten, die diesen Begriff verdienen, dann wieder anerkennen - auch wenn das den Deutschen schwer fällt.

Quelle: Neue Westfälische

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