BERLINER MORGENPOST: zum Optimismus vor dem Jahreswechsel
Archivmeldung vom 27.12.2010
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittBesinnungstage sind emotional bisweilen lästig. Kaum lassen die ruhigen Stunden zwischen den Jahren ein bisschen Zeit zum Grübeln, schon stehen die verbissen wertenden Instanzen bereit, ihr Moralurteil zu fällen. Angesichts einer warmen Wohnung, üppiger Geschenke, eines stattlichen Weihnachtsbaums und einer noch stattlicheren Gans könnte ja der Gedanken aufkommen, dass es uns ja doch relativ gut geht. Will man mit den Griechen tauschen, Berlusconi zum Präsidenten haben, Weihnachten in Shanghai oder Bangalore feiern?
Alles vergleichsweise erträglich hier. Tapfere Postler schleppen täglich Briefe durch den Schnee, Müll wird abtransportiert, mancher Weg geräumt. Was soll die habituelle Hysterie, weil hochempfindliche Kunstwerke wie ICE-Fahrpläne bei Winterwetter tatsächlich kollabieren? Wann wird das Menschenrecht auf sekundenpünktlichen Transport in der ersten Klasse zum Supersondersparpreis in das Grundgesetz geschrieben? Die Jahresendgelassenheit erträgt das Wettsingen von Josè Feliciano und Wham ebenso wie Wulffs Weihnachtsansprache, immerhin unterhaltsamer geraten als die seiner stierenden Vorgänger. Der Schnee hat die Stadt angenehm gedämpft und Hyperaktive vorübergehend gebremst. Das Auto ist festgefroren. Spenden haben das Gewissen ein wenig beruhigt. Wie selbstsüchtig solch schlichte Freude doch ist, wirft die moralische Instanz ein. Die Gans hat das Jahr über gelitten, die Samen für die Tanne haben bitterarme Georgier für ein paar Cent geliefert, und vielleicht lebt im Nachbarhaus ein einsamer Mensch, der sich weder Bratgut noch Christgrün leisten kann und im Kalten hockt, um Heizkosten zu sparen. Wie kann man da Gedanken des Glückes hegen? Berechtigte Frage: Darf man sich freuen, einfach so oder gar an einem edlen Geschenk? Darf man entspannt sein, weil die vielfältigen Spielarten des Weltuntergangs (Klima, Euro, Terror) offenbar einen Restrespekt vor den Weihnachtstagen gezeigt haben? Selbst Wikileaks hat geschwiegen, obgleich noch zu enthüllen gewesen wäre, dass gar nicht der Weihnachtsmann die Geschenke bringt. Bleibt dennoch die Frage: Leben wir in einem vergleichsweise glücklichen Land, wo 80 Prozent von allem leidlich funktioniert? Oder geht in Wirklichkeit überall alles den Bach hinunter? Ist ein naiver Tropf, wer sich dieser Tage eines vergleichsweise sorglosen Lebens freut; oder ist ein Miesmacher, wer stete Bedenken hegt? Die Wahrheit liegt wohl in der Mitte: Ja, diesem Land und vielen seiner Bewohner geht es im globalen Vergleich ziemlich gut, selbst das Elend fällt in Deutschland weniger hart aus als fast überall anders. Wohlergehen aber ist kein Zustand, sondern ein Prozess, der einiges mit Anstrengung und Beharrlichkeit, vor allem aber mit Glück zu tun hat. Es ist kein individuelles Verdienst, sondern Gewinn in der Lebenslotterie, dass wir hier leben und nicht in Bangladesch oder Haiti, wo die Menschen ums Überleben kämpfen und nicht um Ausverkaufsschnäppchen. Wohlstand bekommt nur dann einen Sinn, wenn er geteilt und verbreitet wird.
Quelle: BERLINER MORGENPOST