WAZ: Obama füllt das Sommerloch
Archivmeldung vom 11.07.2008
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittNahezu alle politischen Beobachter waren sich zuletzt einig, dass SPD-Chef Kurt Beck beste Chancen hat, das politische Sommerloch 2009 zu füllen. Hat er das Zeug zum Kanzlerkandidaten? Will er es überhaupt werden? Lässt man es ihn werden?
Jede dieser Fragen ist zwar bereits gestellt worden - aber halt noch nicht von jedem. Entscheidend sind freilich die Antworten. Und die sind, egal von wem sie kommen und wie sie ausfallen, immer interpretationsfähig. Das wiederum füllt das Sommerloch. Ein echter Selbstläufer.
Das politische Berlin hat sich überraschenderweise zunächst für
ein anderes Thema entschieden: Darf der US-Präsidentschaftsbewerber
Barack Obama eine Rede vor dem Brandenburger Tor halten? Darf
Deutschland eines seiner wichtigsten Symbolbauten für einen
wahlkämpfenden Politiker hergeben? Die Nation, so scheint es, hält
die Luft an. Merkel sagt Nein, Steinmeier Ja. Die Angelegenheit droht
aus dem Koalitions-Ruder zu laufen. Zumal praktisch jeder
Abgeordnete, der die Hauptstadt noch nicht Richtung Rügen oder Rimini
verlassen hat, seinen Senf dazugibt. Ein tröstendes Wort an die
Wenigen, die noch nicht zu Wort gekommen sind: Es ist nicht
ausgeschlossen, dass ARD oder ZDF bereits in Kürze einen Brennpunkt
oder eine Talkrunde mit den denkbaren Titeln "Barack in Berlin" oder
"Die Torheit des O." anbieten werden - die Gästelisten sind noch
leer.
Was liegt näher, als jetzt wieder das alte Lied anzustimmen,
wonach sich die Politiker einmal mehr um Nebensächlichkeiten kümmern,
anstatt die wesentlichen Dinge des Lebens anzupacken. Das ist
tatsächlich beklagenswert, aber eben nur die halbe Wahrheit. Die Art
und Weise, wie Teile der Öffentlichkeit eine völlig überflüssige
Querele zu einer Staatsaffäre entwickeln, entbehrt ebenfalls jeder
Vernunft und Logik.
Zumal die Sache, zumindest aus deutscher Sicht, schnell geklärt
ist: Weder Merkel noch Steinmeier, die auch als Koalitionäre nicht
immer einer Meinung sein müssen, haben in dieser Frage auch nur ein
Wörtchen mitzureden. Es ist allein der Berliner Bürgermeister, der
den Platz freigeben oder sperren darf. Und Klaus Wowereit hat sich
bereits entschieden. Barack Obama darf, wenn er denn will.
Und das ist die wesentlich interessantere Frage: Ist der Bewerber
gut beraten, sich mit der Wahl des Rede-Orts indirekt mit den
Brandenburger-Tor-Rednern und Ex-Präsidenten Reagan und Clinton auf
eine Stufe zu stellen? Das könnte auch daheim als Stillosigkeit
bewertet werden.
Quelle: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (von Norbert Robers)