Die Leipziger Volkszeitung zu Merkel/Bilanz
Archivmeldung vom 29.11.2007
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittSelten hat sich eine Regierung so verstellt in einer großen Bundestagsdebatte wie die Kanzlerpräsidentin Merkel samt Gefolgschaft. Zur Halbzeit der großen Koalition machte man sich nicht einmal zur Tarnung die Mühe, im Rahmen der Etat-Debatte über konkrete politische Gestaltung mittels finanzwirksamer Beschlüsse zu sprechen.
Union und SPD erweckten noch in der vergangenen Woche den Eindruck,
sie stünden zueinander wie Hund und Katze oder als sei das tägliche
Regierungsleben so zu gestalten wie die Scheidungswelt von Heather
Mills und Paul McCartney. Jetzt wird plötzlich herumgesülzt, als
begäbe man sich bis 2009 auf Hochzeitsreise. Peter Struck nuschelt
der Kanzlerin zu, er stehe voll und ganz hinter ihr. Die wiederum
attackiert die mäkelnde FDP, dass es jedem Sozi bestimmt warm ums
Herz geworden ist. Wenn Politik so ist, dass es nur noch darum geht,
besonders hinterhältig das Gegenteil dessen vorzuspielen, was man
denkt, dann, um es im Stil des CSU-Schuhplattlers Peter Ramsauer zu
benoten, hat die große Koalition als Ganzes die Note Eins mit
Sternchen verdient.
Bestenfalls lässt sich über die Koalition vor den letzten beiden
Jahren ihres Wirkens sagen, sie hat vor, ihre Möglichkeiten nicht
auszuschöpfen. Das wird ganz sicher für den Krampfkompromiss gelten,
der beim Mindestlohn in Arbeit ist. Das wird so sein bei der
unzureichenden nationalen Klimaschutzpolitik. Die große Koalition
träumt von großen Lösungen, visiert allenfalls mittlere Ziele an und
stolpert bisweilen über zu klitzekleine Vereinbarungen. Das alles ist
manchmal nicht zu ändern, weil Politik häufig komplizierter ist, als
sich das Lieschen Müller oder Guido Westerwelle so vorstellen. Aber
es ist unausstehlich, wenn im Wissen um die Begrenztheit des
Machbaren von den Handelnden so getan wird, als sei man King Lui.
Beispielsweise lobt Frau Merkel ihr mutiges Vorgehen gegen die
Bürokratie. Dabei hat die große Koalition seit Dezember 2006 bis
heute mehr neue Regelungen eingeführt als abgeschafft. Sie
umschmeichelt den Forschungsstandort und führt zum Beleg zwei frisch
gekürte deutsche Nobelpreisträger an. Doch die haben ihre gepriesenen
Leistungen nicht Dank der ostdeutschen Physikerin im Kanzleramt
geschafft, sondern schon in den 80er Jahren. Es sind also Restanten.
Diese Politik des Aufhübschens mit fremden Federn gehört zum
Regierungsalltag. Merkel und Co. streichen die Rendite vom rot-grünen
Agenda-Mut ein. Das stellen sie schauspielerisch gut dar - die eine
mehr, der andere weniger.
Es mag ja sein, dass Union und SPDbeschlossen haben, sich noch einmal
für kurze Zeit zu verlieben, das kommt in den schlimmsten Beziehungen
vor. Gerade deshalb sollten sie sich in der Tugend der Bescheidenheit
üben, um durch Taten zu überzeugen. Mehr Ernsthaftigkeit haben die
Bürger verdient, wenn schon viele den Aufschwung nur vom Hörensagen
kennen.
Quelle: Pressemitteilung Leipziger Volkszeitung