Leipziger Volkszeitung zum Ärzteprotest
Archivmeldung vom 20.04.2006
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 20.04.2006 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittEs sind starke Worte, wenn Marburger-Bund-Chef Frank Ulrich Montgomery vor dem Leipziger Großstreiktag die hiesige Uni-Klinik als Lohn-Drücker und Ärzteausbeuter angreift. Und doch überrascht es nicht, wenn nach wochenlangem Arbeitskampf die Nerven zunehmend blank liegen.
Am Geduldsfaden haben bereits zu viele gezerrt. Allen voran Karl
Lauterbach. Der allein von sich überzeugte Chefeinflüsterer der
Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt ließ sich zu der Bemerkung
hinreißen, deutsche Klinikärzte würden im EU-Vergleich bestens
verdienen, aber höchstens durchschnittliche Arbeit leisten. Merke:
Bei manchem so genannten Experten hört die Originalität leider schon
bei der roten Fliege auf. Doch auch die Ministerin selbst tut alles,
um bloß keinen Sympathiepunkt zu erwerben. So antwortete die
rheinische Frohnatur auf die Frage, warum Deutschland mit
Steuergeldern Ärzte teuer ausbildet und anschließend ins Ausland
vertreibt, mit der lakonischen Bemerkung: Reisende kann man nicht
aufhalten.
Fürwahr, ein Armutszeugnis. Und doch ein unfreiwilliges
Eingeständnis, viel zu lange auf die Geduld der Mediziner gesetzt zu
haben. Seit Jahren schon sehen sie sich einer sozialen Erpressung
ausgesetzt. Die irrige Annahme lautet: Pflichtbewusstsein,
Selbstlosigkeit und Patientenverantwortung würden dem Arzt verbieten,
mit Streik auf eine nicht angemessene Entlohnung zu reagieren. So
wurde mit Haustarifen, unbezahlten Überstunden und
Bereitschaftsdiensten auf Kosten des Personals kräftig gespart. Doch
der Großkampftag von Leipzig zeigt: Die Erpressten sind nicht länger
bereit, das Lösegeld für eine verfehlte Gesundheitspolitik zu
bezahlen.
Zumal auf der anderen Seite der Beitragszahler von Kostenbewusstsein
im Gesundheitssystem nichts merkt. Obwohl er selbst immer neue
Einschnitte hinnehmen muss: Die Kassenbeiträge bleiben hoch oder
steigen. Wer spricht heute noch von der Praxisgebühr als
Kostendämpfer?
Die beiden Hauptfiguren im Reformtheater - Arzt und Patient -
schrumpfen zunehmend zu ohnmächtigen Statisten. Das große Geschäft
machen die Nebendarsteller wie Kassenverwalter, Klinikbetreiber oder
Pharmaindustrielle - also all diejenigen, die eigentlich nur um das
Krankenbett herumstehen. Das Gesundheitssystem droht zum
Gesundheitslotto zu werden: Alle zahlen ein, wenige sind die
Gewinner. Wenn die große schwarz-rote Gesundheitsreform hier nicht
den Paradigmenwechsel vollzieht und sich auf das Wesentliche
konzentriert, ist sie das Wort Reform nicht wert.
Bevor aber die Wortgefechte im Ärztestreik weiter an Schärfe
zunehmen, sollte abgerüstet werden. Dazu gehört ein vernünftiges
Angebot der Länder, die sich trotz klammer Kassen aus der gesicherten
medizinischen Versorgung ihrer Einwohner nicht herausmogeln können.
Aber auch der Marburger Bund muss über seinen Schatten springen. 30
Prozent mehr Gehalt sind nach Jahren der Einbußen zwar keine
unberechtigte Forderung. Doch eine realistische Verhandlungsgrundlage
sieht anders aus.
Quelle: Pressemitteilung Leipziger Volkszeitung