"Mittelbayerische Zeitung" zu Tschernobyl
Archivmeldung vom 26.04.2011
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittMachen wir uns nichts vor: 25 Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl würde normalerweise kein Hahn mehr groß nach den schrecklichen Ereignissen von damals krähen. Es gäbe die üblichen Gedenkveranstaltungen mit Betroffenheitsreden von Politikern. Atomgegner und -Befürworter würden sich wieder darüber streiten, wie viele Opfer das Unglück in Wahrheit gefordert hat.
Umweltverbände würden - völlig zu Recht - darauf hinweisen, dass Wildschweine und Pilze auch in Bayern immer noch eine hohe Strahlenbelastung aufweisen - die gleichen Rituale wie vor fünf, zehn und 15 Jahren auch schon. Danach ginge jeder wieder zum gewohnten Geschäft über. Diesmal ist alles anders: Dass sich die Atomkatastrophe von Fukushima ausgerechnet wenige Wochen vor dem Tschernobyl-Gedenken ereignete, ist statistisch gesehen wohl noch unwahrscheinlicher als ein GAU in einem Kernkraftwerk. Doch dieser seltsame Zufall bringt uns nicht nur den Schrecken von Tschernobyl zurück - anschaulicher als allen lieb ist. Viele werden ihn als unheilvolle Warnung vor blindem Technikglauben verstehen. Und vor allem muss sich die Menschheit jetzt erneut fragen, ob sie nicht einmal im Angesicht des atomaren Höllenfeuers lernfähig ist. In Deutschland - leider nicht im Rest der Welt - führte Tschernobyl anfangs tatsächlich zu einem gewissen Umdenken. Die Katastrophe, die lange in Gefahr stand in Vergessenheit zu geraten, verhalf der Anti-AKW-Bewegung nach 1986 zu einem enormen Schub. In der Oberpfalz und in Niederbayern, wo ein Teil der radioaktiven Wolke niederregnete, kippte die Stimmung gegen die Atomkraft stärker als im Rest der Republik. Begriffe wie Becquerel, Rem und Sievert - Maßeinheiten zur Strahlenbelastung - gehörten plötzlich zum Alltagsvokabular der Menschen in Ostbayern. Und die Warnungen, dass frisches Gemüse, Milch oder das Spielen im Sandkasten auf einmal die Gesundheit gefährden können, machten auch aus vielen strammen Konservativen überzeugte Atomgegner. Dieser Sinneswandel manifestierte sich in eindrucksvoller Weise im Widerstand gegen die WAA in Wackersdorf, wo damals fast jedes Wochenende Zehntausende gegen die Atomfabrik demonstrierten - junge Kernkraftgegner mit PLO-Tüchern Hand in Hand mit gesetzten Herrschaften in Lodenmänteln. Der Wutbürger wurde damals in der Oberpfalz geboren - als Kind von Tschernobyl und Wackersdorf. Mit dem Aus für die WAA, mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und den vielen daraus resultierenden Umbrüchen verblasste jedoch nicht nur die Erinnerung an den atomaren GAU. Mit dem von Rot-Grün beschlossenen Atomausstieg fiel auch die Anti-AKW-Bewegung in sich zusammen. Ihre Renaissance erlebte sie erst mit der Laufzeitverlängerung durch die schwarz-gelbe Regierung und natürlich jetzt durch Fukushima. Hier zeigt sich, dass deutsche Politiker doch dazulernen können - wenn auch erst nach einer Katastrophe. Als Folge von Tschernobyl wurde kein einziges Atomkraftwerk in Deutschland abgeschaltet. Damals konnte man die Schuld auf veraltete Sowjet-Technik schieben. Heute - nach dem zweiten Tschernobyl in Fukushima - kann niemand mehr behaupten, so ein Unglück könne sich in einem modernen Industrieland nicht ereignen. Deshalb verdient Angela Merkel Beifall, wenn sie es mit ihrer versprochenen Energiewende tatsächlich ernst meint und zumindest die älteren Atommeiler nie wieder ans Netz lässt. Mögen andere Staaten stur an der Kernkraft festhalten, bis es bei ihnen selbst einen GAU gibt: Die einzig richtige Entscheidung ist es, dem eigenen Volk nicht länger ein Restrisiko zuzumuten, von dem letztlich niemand weiß, wie hoch es tatsächlich ist. Dann hätten wir die Gewissheit, dass es bei uns kein drittes Tschernobyl gibt.
Quelle: Mittelbayerische Zeitung (ots)