Westdeutsche Zeitung: Sarrazin
Archivmeldung vom 30.08.2010
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittKaum ein Buch hat bislang schon vor seinem Erscheinen so viele Rezensionen gesammelt wie Thilo Sarrazins "Deutschland schafft sich ab". Wohlgemerkt: Erst heute wird das Werk in der Bundespressekonferenz vorgestellt. Und schon haben sich zahlreiche gesellschaftliche Gruppen und bedeutende Politiker dazu geäußert. Rein marketingtechnisch gesehen haben somit das gerne provozierende SPD-Mitglied und sein Verlag einen Volltreffer gelandet.
Und dabei genießt Sarrazin offenbar sogar die herabprasselnde Kritik, indem er zum Beispiel am Wochenende dreist die Bundeskanzlerin als seine beste Verkaufsförderin titulierte. Doch genau das ist der wunde Punkt. Die Stimmen, die gegen Sarrazins Thesen laut werden, sind sicherlich überwiegend von ehrlicher Sorge getrieben, dass hier jemand rassistische Vorurteile bedienen will. Allerdings lässt sich auch des Autors Verwunderung nachvollziehen, ob diese Mahner wirklich schon jetzt alle 464 Seiten gelesen und durchdacht haben. Vorveröffentlichungen und Zusammenfassungen reichen nämlich bei solch komplexen Themen nicht unbedingt aus. Die Sarrazin-Kritiker laufen folglich Gefahr, ihm in einem vorschnellen Reflex zu antworten. Ihnen muss klar sein: Das macht sie ebenfalls angreifbar - und erhöht eben den Effekt der ungewollten Öffentlichkeitsarbeit für das Buch. Auch wenn es, vor allem nach den jüngsten Äußerungen über Gene und Juden, die besonders in Deutschland schwer erträglich sind, den Kritikern schwer fällt: Ausschließlich eine sehr sachliche Debatte hilft weiter. Alles andere wertet Sarrazin zu sehr auf. Ihn gar aus seinem Amt zu verjagen, aus der SPD auszuschließen und ihn in geistige Nähe zur NPD zu rücken, ist gefährlich. So entstehen Legenden und Märtyrer. Sachlichkeit ist aus einem weiteren Grund oberstes Gebot. Die von Sarrazin angesprochenen Themen sind nicht nur sensibel, sondern durchaus entscheidend für die Zukunft. Denn auch wenn die meisten aufgeklärten Bürger seine Aussagen für politisch unkorrekt halten, dürfen wir die Probleme nicht schönreden: Vor allem bei der Integration ist in Deutschland sehr viel im Argen. Das auszusprechen, ist in Ordnung und sogar wichtig. Es so polemisch wie Sarrazin zu tun, hingegen nicht.
Quelle: Westdeutsche Zeitung