Zum EU-Beitritt von Bulgarien und Rumänien schreibt die Leipziger Volkszeitung
Archivmeldung vom 17.05.2006
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittSeit gestern ist klar, was ein Vertrag zum EU-Beitritt wert ist, der vor seiner Erfüllung unterschrieben wurde: Er gilt. Bulgarien und Rumänien werden der 26. und der 27. Staat Europas werden. Zu Beginn nächsten Jahres. Selbst wenn man mit viel Fantasie in den Bericht aus Brüssel noch Zweifel an diesem Beitrittsdatum hineinliest, werden diese nicht wahr werden.
Das ist das Dilemma des Erweiterungsprozesses. Beide Länder haben
Teile der vereinbarten Drucksache nicht erfüllt und werden dennoch
aufgenommen. Dieser Zustand ist auch Ergebnis der Selbstüberschätzung
der EU-Kommission, die den Erweiterungsprozess in Handlangerschaft
mit einigen Regierungen in einem Tempo antreibt, bei dem
alteingesessenen Europäern schwindlig wird. Deshalb fiel die
EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden durch. Deshalb
wächst der Unmut gegen neue Mitglieder. Das ist denen aber nur
bedingt anzulasten.
Europa muss aufpassen, dass es im Erweiterungstaumel keinen
Ausverkauf seiner Werte betreibt. Was gelten die, wenn man
Clubmitglied wird, ohne wirklich Clubreife zu besitzen? Das kann die
Kommission natürlich nicht zugeben. Sonst müsste sie ihre
Unterschrift zurückziehen. Immerhin kann sie die Beitrittsprozedur
für die nächsten Staaten ändern. Zwischen Nicht- und Vollmitglied
muss es eine Zwischenstufe geben.
Diesmal gilt noch altes Recht. Bulgarien und Rumänien haben
angeklopft und sich entwickelt. Kulturell gehören die Balkanvölker
sowieso zu Europa. Die Wirtschaft floriert. Die Menschen wollen diese
Perspektive. Die Reformkräfte etablierten sich aber erst spät und
sind nun noch nicht stark genug, um der altkommunistischen
Nomenklatura und der Mafia allein die Stirn zu bieten. Würde Brüssel
die Staaten abweisen, fielen sie um Jahre zurück.
Das alte Europa muss aufpassen, dass es nicht ungerecht wird. Im
Gegensatz zu einigen Kernstaaten beeindrucken die Beitrittskandidaten
in den letzten Jahren, Monaten und Wochen mit enormem Reformtempo.
Wir Deutsche versuchen seit zwanzig Jahren den Ladenschluss zu
kippen, seit zehn Jahren basteln wir an Gesundheits-, Renten- und
Arbeitsmarktreformen. Ohne nennenswerte Erfolge. Dagegen werden
zweitausend Kilometer südöstlich in kürzester Zeit Verfassungen
geändert und ganze Gesetzeswerke neu geschrieben. Ganz demokratisch.
Programmatisch gegensätzliche Kräfte haben eine gemeinsame Idee und
verwirklichen sie. Daran herumzumäkeln, ist selbstgefällig und
überheblich.
Die Aufnahme Bulgariens und Rumäniens ist kein Blankoscheck. Brüssel
hat genug Mittel, um zu verhindern, dass sich Selbstzufriedenheit auf
dem Ostbalkan breit macht. Der Druck muss bestehen bleiben.
Beispielsweise mit Sicherheitsklauseln. Notfalls sollte der Geldfluss
versiegen. Spätestens darauf werden die Staaten reagieren.
Quelle: Pressemitteilung Leipziger Volkszeitung