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DER STANDARD - Kommentar "Der Gipfel der Zweifler"

Archivmeldung vom 28.01.2012

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 28.01.2012 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt

Kapitalisten kritisieren den Kapitalismus. Das ist neu beim Weltwirtschaftsforum. So viel Systemkritik gab es noch nie in Davos wie im 42. Jahr nach der Gründung. Dass der Kapitalismus als Modell in einer veritablen Krise steckt, wurde beim diesjährigen Gipfel der Mächtigen mehr als deutlich. Schon vor der Eröffnung ließ Forumsgründer Klaus Schwab mit der Feststellung aufhorchen: "Das kapitalistische System passt nicht mehr in die heutige Welt." Und Schwab ist kein Linker.

Statt des traditionellen Konjunkturausblicks zu Beginn des Treffens gab es heuer eine "Debatte über den Kapitalismus". Die Hälfte der Zuschauer hob die Hand, als der Moderator fragte, ob es stimme, dass diese Wirtschaftsform der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts nicht gerecht werde. Weniger Exzesse, weniger unerfüllbare Versprechen, die sozialen Aspekte im Blick haben und die ökonomischen Ungleichgewichte angehen - das waren Forderungen, die auf fast allen Podien zu hören waren. Immer wieder war von Moral und sehr häufig von Werten die Rede. Auch die Religion wurde vielfach beschworen. Nicht nur, weil ungewöhnlich viele Bischöfe und buddhistische Mönche als Diskussionsteilnehmer auftraten. Beifall erhielten vor allem jene, die sich als "soziale Unternehmer" auswiesen. Dazu passte, dass heuer die üblichen großen Demonstrationen von Globalisierungskritikern ausfielen, die häufig von Ausschreitungen begleitet waren: Durch den Ort schlenderten Spaziergänger, die eine Leine und einen Maulkorb in der Hand hatten - ein ruhiger Protest mit der Forderung, "die Unternehmen an die _Leine zu legen". Die Mitglieder der Occupy-Bewegung, die in Iglus in Davos campierten, wurden zum viel besuchten Ausflugsziel. Davos gilt als Spiegel dessen, was die Weltwirtschaft bewegt. Selbstzweifel und Kapitalismuskritik haben die ökonomische _und wissenschaftliche Elite okkupiert. Demnach ist der Kapitalismus westlicher Prägung mehr als 20 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und im fünften Jahr der Finanzkrise in einer Selbstfindungsphase. Deutlich wurde auch: Zum Kommunismus will niemand zurück, die reine Marktwirtschaft predigen aber selbst Spitzenmanager und Banker nicht mehr. Die soziale Marktwirtschaft - mit Betonung auf Ersterem - war das am häufigsten genannte Ziel. Das Modell des Staatskapitalismus, wie es etwa Singapur vertritt, ist zumindest für Europäer nicht erstrebenswert. Aber dass der Staat Vorgaben gibt - und sogar noch mehr vorgeben muss -, war überraschender Konsens. Von politischer Seite wurden noch mehr Entscheidungen angemahnt, insbesondere von den Europäern, im Speziellen von der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die Europäer fanden sich im Übrigen in der ungewohnten Rolle, an den Pranger gestellt zu werden. Die von Schwab geforderten Lösungen hat das Treffen nicht gebracht. Zumindest nicht solche, die in klare Formeln gegossen werden können. Aber dass alle inmitten eines großen Transformationsprozesses stecken, ist allen sehr bewusst. Dazu hat auch der Arabische Frühling beigetragen und Protestbewegungen wie Occupy rund um den Globus. Davos markiert Diagnose und Aufbruchsstimmung zugleich - von praktischen Umsetzungen sind wir aber noch weit entfernt.

Quelle: Der Standard (ots)

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