Radikalkur am Bosporus
Archivmeldung vom 14.11.2020
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Freigeschaltet durch André OttEs ist ein Befreiungsschlag für die Lira, was sich in den vergangenen zehn Tagen in der Türkei getan hat. Nach dem Abgang von Zentralbankchef und Finanzminister scheint sich zu bestätigen, dass das Land eine Kehrtwende in seiner Geldpolitik vollziehen könnte. Anfangs gab es Zweifel, ob der erneute Rauswurf eines Notenbankchefs nach weniger als zwei Jahren wirklich etwas Gutes bedeutet. Doch dann legte Erdogan verbal nach und schlug marktfreundlichere Töne an.
Der Präsident sagte, dass er voll hinter der Politik des neuen Notenbankchefs stehe, und: "Die Türkei wird bittere Pillen verabreichen, falls dies nötig sein sollte." Das klang nach einer echten Abkehr von der wenige Tage zuvor geäußerten Beschuldigung, Ausländer und hohe Zinsen seien für die Probleme des Landes verantwortlich; und weiter: sein Land führe einen Krieg gegen eine "unheilige Dreieinigkeit" aus Wechselkursen, Inflation und Zinsen. Doch dann folgte dieser überraschende Kurswechsel.
Der Verfall der türkischen Lira wurde durch die Personalentscheidungen und die Kehrtwende der Politik jedenfalls gestoppt. Die Währung stieg am Freitag auf den höchsten Stand seit sieben Wochen und verzeichnete damit in einer Woche einen Zuwachs von 11%. Marktbeobachter wurden von den Ereignissen in der Türkei überrumpelt. So hatten die Experten der Commerzbank wochenlang gehofft, dass der türkische Präsident durch die Entwicklungen der letzten sechs Monate gelernt habe, sich nicht massiv in die Geldpolitik einzumischen. Doch die erste Reaktion der Analysten: "Die Entlassung Uysals hat diese Hoffnung zerstört."
Warum sollte man einen Notenbankchef entlassen, den man vor anderthalb Jahren installiert hatte und der genau das getan hatte, was Erdogan wollte: den "Zinsteufel" bekämpfen und die Leitzinsen von 24% auf 8,25% herunterschleusen. Und dann hatte Uysal auch noch im September die Wende eingeleitet und die Leitzinsen wieder auf 10,25% erhöht. Warum sollte nicht er der richtige Mann sein, die Kehrtwende zu exekutieren, und stattdessen Naci Agbal zum Zentralbankgouverneur ernannt werden, der als dem Präsidenten treu ergeben gilt? Das schien keinen Sinn zu machen. Andererseits war Agbal bis 2018 Wirtschaftsminister und gilt als marktfreundlich.
Wie irritiert die Märkte waren, zeigte die Enttäuschung darüber, dass die Notenbank die Zinsen nicht schon Ende Oktober weiter angehoben hatte. Zu der damaligen Entscheidung meinte Sebastian Petric von der Raiffeisenbank International: "Das Zögern der türkischen Zentralbank, eine deutliche Zinserhöhung vorzunehmen, ist sicherlich ein sehr schlechtes Zeichen für die Märkte. Um eine Wiederholung der Währungsprobleme von 2018 zu vermeiden, hätte die Zentralbank entschlossen handeln müssen. Jetzt ist alles möglich." Die Lage spitzte sich in der Tat zu, für einen Dollar mussten am 6. November 8,50 Lira gezahlt werden. Dann handelte Erdogan.
An der Großwetterlage ändern neue Personen so schnell aber nichts. Leistungsbilanzdefizite, schrumpfende Devisenreserven - für Thomas Meißner von der LBBW stand das Land kurz vor einem Offenbarungseid. Beispiel Devisenreserven: Offiziell werden diese mit 42 Mrd. Dollar ausgewiesen, Anfang des Jahres waren es rund 80 Mrd. Dollar. Fraglich ist aber, wie hoch die freien Devisenreserven sind.
Nach der Kehrtwende sieht es nun danach aus, dass die Zentralbank auf der nächsten Sitzung am 19.November ihren Leitzins von 10,25% auf 15% erhöhen könnte, wie eine Umfrage von Reuters ergab. Die befragten Analysten haben Erdogans Rede als Zeichen dafür gewertet, dass er eine solche Erhöhung billigen würde. Damit dürfte der Ausverkauf der Lira wirklich gestoppt sein und bliebe der IWF vorerst außen vor. Andererseits sind die hohen Zinsen eine Bürde für die türkische Wirtschaft.
Quelle: Börsen-Zeitung (ots) von Wolf Brandes