Berliner Morgenpost: Die Kleinverdiener würden auch gern helfen
Archivmeldung vom 12.01.2009
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 12.01.2009 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittDie Tektonik ist die Wissenschaft von Aufbau und Bewegung der Erdkruste. Tektoniker vermessen begeistert, wie riesige Kontinentalplatten um Millimeter auseinanderdriften, zusammenstoßen, sich über Jahrmillionen zu Gebirgen falten. Diese Zeitlupenwissenschaft ist hoch spannend.
Für jemanden allerdings, der gerade in einem Haufen Treibsand steckt, ist die Weltsicht des Tektonikers nicht besonders hilfreich. Krise und Konjunkturpaket II illustrieren auf dramatische Weise, wie sich das Volk und seine Vertreter voneinander entfernt haben. 82 Millionen Deutsche stehen mit der Schippe in einem großen Sandhaufen, etwas verängstigt, häufig ratlos, auf jeden Fall aber allein. Was die Politik beschließt, hat mit dem Leben von Klein- und Normalverdienern nicht viel zu tun. Der Zehn-Punkte-Plan, den die CDU-Spitze, also die Bundeskanzlerin, mit dem Koalitionspartner SPD verhandelt, ist von zeitloser Wolkigkeit, als würde die Kontinentaldrift beschrieben. Beim Wegschippen der alltäglichen Sandhaufen jedenfalls hilft das Paket herzlich wenig. Das beginnt schon mit dem dröhnenden Titel "Pakt für Deutschland". Mal abgesehen davon, dass in den letzten 20 Jahren weltweit nahezu jeder Politiker so ein Pakt-Papier aufgelegt hat, bleibt die Frage: Wer hat da einen Pakt mit wem geschlossen? Pofalla mit Rüttgers? Merkel mit Steinbrück? Ein Pakt mit den Bürgern ist die Erfurter Lyrik jedenfalls nicht - sondern durchsichtiges Marketing-Geklingel. Man muss kein Pisa-Streber sein, um auszurechnen, was eine Steuererleichterung von fünf Milliarden Euro für die Menschen bedeutet: ziemlich genau fünf Euro pro Monat pro Einwohner. Wir wollen nicht undankbar sein. Wenn Banken 500 Milliarden bekommen und Unternehmen 100 Milliarden, dann ist auch nicht mehr drin. Für die kommende Heizkostenabrechnung wird es vielleicht knapp reichen, wenn der Winter genau heute endet. Fakt ist: Viele Kleinverdiener würden der Konjunktur gern helfen und mehr konsumieren. Sie können nur nicht. Ob Gebäudereiniger, Servicekräfte oder Verkäuferinnen, ob junge Architekten, Juristen oder andere Studierte, Millionen Menschen mit soliden Ausbildungen leben von unsicheren Monatseinkommen unterhalb aller Tarife. Familie, Auto oder Urlaub sind kaum noch drin. Konjunkturpakete wie diese helfen nicht den Menschen, sondern der Politik: Beim Gerangel um einige Prozentkrümel lässt sich Handeln simulieren, es werden große Summen gedreht, jeder Darsteller auf der politischen Bühne darf seine Rolle weiterspielen. Die Tektoniker haben ihr Ziel erreicht und wieder etwas Zeit gewonnen. Für die Menschen mit der Schippe dagegen werden Reformen erst spürbar, wenn der erste Maler mit dem Farbeimer tatsächlich im Klassenzimmer steht, wenn die Löcher in der Straße gefüllt werden und das Anpacken dann auch noch halbwegs menschenwürdig bezahlt wird.
Quelle: Berliner Morgenpost