Finanzielle Kernschmelze
Archivmeldung vom 04.03.2022
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Freigeschaltet durch Sanjo BabićRusslands Angriffskrieg gegen die Ukraine und dessen Folgen übersteigen jegliche Vorstellungskraft. Das gilt - zuallererst - für die humanitäre Tragödie, die in Europa niemand für möglich gehalten hat. Es gilt in zweiter Linie aber auch für die Märkte: Was die westlichen Sanktionen ausgelöst haben, ist nicht weniger als die Kernschmelze des russischen Finanzsystems und der dortigen Kapitalmärkte.
Der (Teil-)Ausschluss russischer Banken aus dem globalen Zahlungsinformationsnetzwerk Swift ist vielfach als nukleare Option bezeichnet worden, als mächtigste Waffe im Finanzkrieg. Mit jedem Tag wird deutlicher, dass dies so nicht stimmt. Das liegt gar nicht mal daran, dass sich der Swift-Bann umgehen lässt. Vielmehr hat der Westen eine noch schärfere Waffe gefunden und eingesetzt: Russlands Zentralbank von ihren Währungsreserven abzuklemmen, die bei Notenbanken in Europa, den USA und andernorts geparkt sind.
Dieser Schritt ist in der Finanzgeschichte ohne Beispiel - und kam deshalb offenbar auch für Moskau unerwartet. Russlands Währungshüter sind ihres wichtigsten Instruments beraubt, um mit Eingriffen am Devisenmarkt den Rubel zu stützen. Die Folgen sind verheerend: Die Währung ist binnen Tagen kollabiert. Die verbliebenen Gegenmaßnahmen - eine Verdopplung des Leitzinses und Kapitalverkehrskontrollen - sind verpufft.
Der Kreml will die unvermeidliche Kapitalflucht eindämmen, indem er Überweisungen ins Ausland limitiert und den Handel mit Anleihen stoppt. Überlagert werden diese Verzweiflungstaten von Spekulationen über einen bevorstehenden Staatsbankrott. Russische Staatspapiere sind über Nacht quasi wertlos geworden, zumal institutionelle Investoren wie die Allianz wegen der Sanktionsspirale nicht mal mehr an ihre Kuponzahlungen kommen.
Bezeichnenderweise halten Ratingagenturen mit der Wucht der Krise kaum Schritt. Auf einen Schlag haben Fitch und Moody's Russlands Kreditwürdigkeit um nicht weniger als sechs Stufen gesenkt. Russische Papiere sind nur noch Ramsch, ein Zahlungsausfall ist wohl nur eine Frage der Zeit. Der russische Staat ist zum Paria der Weltgemeinschaft geworden, der russische Markt zur No-go-Area. Welcher Investor, der halbwegs bei Trost ist, nimmt da nicht Reißaus?
Berichten zufolge suchen sich nun auch Abnehmer russischen Öls Alternativen zum zweitgrößten Ölexporteur der Welt. Von einem Käuferstreik ist die Rede, quasi in vorauseilendem Gehorsam: Offiziell sanktioniert ist der russische Energiesektor nicht. Putins Kriegskasse wird das - so ist zu hoffen - weiter austrocknen.
Quelle: Börsen-Zeitung (ots) von Stefan Reccius