Börsen-Zeitung: Die Welt auf "watch"
Archivmeldung vom 31.12.2011
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittVertrauensentzug ist das Phänomen des Jahres 2011. Das Vertrauen, dass der Euro eine stabile Währung mit Zukunft sei: verloren. Die Zuversicht, dass die Politik in der Lage sei, Krisen zu lösen: geschwunden. Die Hoffnung, dass es gerecht zugehe in der Gesellschaft: nicht erfüllt. Die Annahme, dass europäische Staatsanleihen sichere Anlagen seien: widerlegt. Die Vorstellung, dass technische Prozesse wie die friedliche Nutzung der Kernenergie beherrschbar seien: atomisiert. Der Wunsch, dass Politiker in hohen Staatsämtern eine moralische Instanz und Vorbild sein mögen: enttäuscht.
Es bedurfte nicht der Ratingagenturen und des Entzugs des Dreifach-A für den Schuldner USA und der Androhung der gleichen Herabstufung für europäische Staaten, um die Welt auf "watch negative" zu setzen. Die Bürger haben die Herabstufung längst zum Ausdruck gebracht: in Demonstrationen, in Aktionen der Occupy-Bewegung, in Wahlen und parlamentarischen Abstimmungen. In acht Ländern in Europa haben die Regierungen gewechselt, Frankreich könnte im neuen Jahr folgen.
Politik ist kurzatmig geworden, hechelt von Krisengipfel zu Krisengipfel. Da nimmt es nicht wunder, dass die Stimmung bei Investoren und Produzenten schlechter ist als die Lage, dass der Blick in die Zukunft von Skepsis bestimmt ist. Wie lange wird der Glanz eines realen Wachstums von 3% in Deutschland halten? Wie lange können die rekordhohe Beschäftigung, international wettbewerbsfähige und grundsolide finanzierte Unternehmen und niedrige Finanzierungskosten die Konjunktur tragen? Zur Erkenntnis des zu Ende gehenden Jahres gehört, dass der wirtschaftliche Erfolg Deutschlands teuer erkauft ist mit der Schicksalsgemeinschaft der Währungsunion. Die Konsequenz: Euroland wird entweder für alle Mitgliedsländer eine Erfolgsgeschichte, oder alle werden gemeinsam zu Verlierern. Letzteres hatten die Väter des Euro aus politischen Gründen ausschließen wollen, deshalb gibt es keinen Plan B. Doch auch aus ökonomischen Gründen darf die Währungsunion nicht scheitern. Deutschland als der größte Gewinner der Eurozone hätte am meisten zu verlieren, wenn Euroland auseinanderbräche.
Ungeachtet dessen ist es die Herausforderung im neuen Jahr, die Opportunitätskosten für den Erhalt der Währungsunion möglichst gering zu halten, also die gemeinsame Haftung untrennbar mit Pflichten zur Haushaltsdisziplin zu verknüpfen. Zum Glück muss sich der Bürger in diesem Punkt nicht allein auf das Verhandlungsgeschick einer Bundesregierung verlassen, die schon mal für opportunistische Kehrtwenden im Sinne des Zeitgeistes gut ist. Das Bundesverfassungsgericht hat die Grenzen für die Haftung in einer sogenannten Fiskalunion längst gezogen.
Die Verfassung hilft freilich nicht, wenn die Haftungsgemeinschaft über die Hintertür der Geldpolitik kommt. Schuldenabbau über Inflationierung darf keine Option sein, so bequem dieser Weg aus der Staatsschuldenkrise heraus für die Politik auch sein mag. Deshalb steht 2012 vor allem die Europäische Zentralbank (EZB) unter ihrem neuen Präsidenten Mario Draghi unter Beobachtung - als eine der wenigen Institutionen, die noch das Vertrauen der Bürger und der Märkte genießt.
Quelle: Börsen-Zeitung (ots)