Leipziger Volkszeitung zur Unterschichten-Debatte
Archivmeldung vom 17.10.2006
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 17.10.2006 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittSie fühlen sich als Verlierer, sind kaum flexibel, haben zumeist eine schlechte Bildung und tun wenig bis nichts, um ihre triste Lage zu ändern. Es ist ein hartes Urteil, zu dem die Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung kommt.
Noch härter ist der Begriff für diese
gesellschaftliche Gruppe: Unterschicht - das ordinäre
Soziologendeutsch wird auch nicht besser, je mehr das Wort in aller
Munde ist.
Erschreckend ist zudem die Tatsache, dass gerade im Osten fast jeder
einen Betroffenen kennt. Jeder Fünfte wird inzwischen zu diesen
Verlierern gerechnet. Bei den einen ist es der Nachbar, der sich von
einer ABM zur nächsten gehangelt hat und inzwischen nur noch am Kiosk
steht. Bei anderen geht der Riss mitten durch die Familie - mancher
Familienvater kann es nicht ertragen, nicht mehr gebraucht zu werden
und droht sich aufzugeben.
Zum echten Ärgernis wird die aufgeflammte Debatte aber erst, weil
kaum Lösungswege gezeigt, dafür umso mehr alte Feindbilder und
ideologische Scheuklappen gepflegt werden. Da sehen SPD-Linke und die
Rächer der Entrechteten von der Linkspartei ihre Chance gekommen, mit
der verhassten Hartz-Reform samt Alt-Kanzler Schröder abzurechnen.
Dabei ist ihr Reflex von vorgestern: Der Verteilungsstaat soll es
richten. Aber auch SPD-Chef Kurt Beck macht es sich zu einfach. Er
tut gerade so, als habe die SPD nun gar nichts mit der Politik der
letzten acht Jahre zu tun. Dafür nimmt er dreist einen
CDU-Wahlkampfschlager ins neue SPD-Programm: Leistung muss sich
wieder lohnen. Und natürlich nutzt SPD-General Heil die Gunst der
Stunde, um den schwarzen Peter der Union zuzuschieben. Seine
Botschaft: Lieber weiter mit den teuren Hartz-IV-Handwerksfehlern
leben, als mit einer Reform der Reform erneut Arbeitslose zu
verprellen.
Doch so leicht sind die Erklärungsmuster nicht. Wohl zeigt sich, dass
der richtige Ansatz der rot-grünen Reform-Agenda - Fordern und
Fördern - in der Praxis Schiffbruch erlitten hat. Doch daraus müssen
konsequent Schlussfolgerungen gezogen werden. Fordern kann man sehr
wohl von Leistungs-Empfängern, dass sie alle Chancen ergreifen, die
staatliche Alimentierung so schnell wie möglich zu überwinden. Vater
Staat ist nicht die Vollkasko-Versicherung für jede Lebenslage.
Gerade hier wird es aber immer noch zu einfach gemacht, sich in der
sozialen Nische mit Alg II plus Mini-Job plus Schwarzarbeit
einzurichten. Auch in der "Unterschicht" lässt es sich als Cleverle
ganz gut auskommen.
Deshalb ist das Fordern nicht vom Fördern zu trennen. Mehr Privat
statt Staat gilt nicht, wenn es um Zugangsmöglichkeiten zu Bildung
und Qualifizierung geht. Auch Langzeitarbeitslose bleiben chancenlos,
wenn ihnen keine Brücken in den ersten Arbeitsmarkt gebaut werden.
Eine davon kann ein Kombilohn sein, der zudem den Hartz-Missbrauch
beenden hilft.
Der Schlüssel für soziale Aufstiegschancen liegt in einer besseren
Bildung. Das ist zwar eine Binsenweisheit, weil sie aber viel kostet,
wird sie gern ignoriert. Lieber wird bislang stillschweigend
akzeptiert, wenn sich Sozialhilfe-Karrieren vererben. Es fragt sich
nur, wie lange sich Deutschland das noch leisten kann.
Quelle: Pressemitteilung Leipziger Volkszeitung