Leipziger Volkszeitung zum SPD-Parteitag
Archivmeldung vom 20.10.2008
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittSPD-Team gegen Merkels SchwächeVermeintlich neue SPD-Hoffnungsträger wurden schon oft mit beinah hysterischer Hektik gehoben und bald wieder versenkt. Nun also Steinmeier plus Müntefering.
Das allein böte Grund zu spöttisch-kabarettistischen Höhenflügen:Kommt das letzte Aufgebot oder schon der Erlöser? Weil aber die Zeitenwende da ist, durch die unkalkulierbaren Folgen der Finanzmarktkrise, gerät der Politiker- und Selbstbewusstseinswechsel bei der SPD zum unerwartet besonderen Ereignis. Die Wirtschaft zeigt sich hilflos in einer Welt der Zügellosigkeit und der moralischen Bodenlosigkeit. Die Politik muss Gestaltungskraft beweisen. Verängstigte Politiker, die beobachten, wie die Managerwelt verrückt spielt, um in letzter Minute Notlösungen als Rettungspakete zu verkaufen, werden ihrer Aufgabe nicht gerecht. Jetzt gilt es, sich neue Kompetenz zu erarbeiten. Angela Merkel muss mehr hinterlassen als einen guten Eindruck. Die SPD-Spitze rund um Franz-Walter Steinbrück - die Mischung aus diplomatischer Noblesse, populärer Sprache und jonglierender Finanzaufsicht - sieht sich mitgezogen von einer neuen Zeit. Steinmeier steht auf der Bühne neben Bergleuten und singt das alte Genossenlied vom Blatt, weil er solcherlei nicht mehr auswendig gelernt hat. Das ist weniger antiquiert als es erscheint. Um die Richtung für die Zukunft vorzugeben, ist es gut zu wissen, wo man herkommt. Aber es wäre ein Irrtum, anzunehmen, man stünde schon deshalb an der Spitze der neuen Zeit, nur weil einer wie Müntefering so herzhaft frei das Alte singen kann. Immerhin hat der neue alte SPD-Vorsitzende gezeigt, dass er nicht mehr aber auch nicht weniger als der Generalsekretär des Kanzlerkandidaten sein will. Er schenkte auf dem Parteitag dem Merkel-Herausforderer seinen Schlussapplaus, er holte sich für ihn das Denkzettel-Wahlergebnis für die Gemeinschaftsaktion "Beck muss weg" ab. Und Müntefering, nicht Steinmeier, wird zum richtigen Zeitpunkt - also sehr viel später - die persönliche Abrechnung mit der Moderations- statt Richtlinienkanzlerin beginnen. Gegen all das steht Angela Merkel allein da. Das war ihre Stärke, so lange sich die Sozis gegenseitig selbst erledigten. Das kann ihre große Schwäche werden, wenn die Sozialdemokraten es schaffen sollten, im Team zu arbeiten. Und wenn die neue Führung begreift, dass die Partei nach dem Schröder-Schreck wieder fest in der linken Mitte stehen will. Steinmeier hat zumindest das Arbeitsfeld inhaltlich so abgesteckt, dass es sich wieder lohnen könnte, den sachlichen Streit mit denen zu suchen, die meinen, Politik käme mit Pragmatismus aus, ohne an sittliche Zwecke zu denken.
Quelle: Leipziger Volkszeitung