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WAZ: Politik gegen Finanzindustrie

Archivmeldung vom 06.12.2011

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 06.12.2011 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt

Steht Europa vor einer deutschen Machtergreifung? Helmut Schmidt hat diese Frage aufgeworfen, als er vor "deutschnationaler Kraftmeierei" warnte. Die Antwort heißt aber eindeutig: Nein. Derzeit passiert etwas anderes in Europa. Gerade die Südländer begreifen, dass die ungehemmte Verschuldung der vergangenen Jahre ein großer Fehler war. An dieser Erkenntnis ist nicht Merkel Schuld, sondern sie stammt von den Finanzmärkten. Sie haben politische Macht.

50 (!) Misstrauensvoten konnte Italiens Berlusconi überleben, erst die Herabstufung seines Landes zum unsoliden Schuldner hat ihn aus dem Amt gefegt. Merkel und Frankreichs Sarkozy sprechen stets vom nötigen "Vertrauen der Märkte". Das muss man übersetzen. Dann wird daraus eine unangenehme Wahrheit: Auf Krisengipfeln beschließen Staaten Maßnahmen, um den Euro zu stützen. Am nächsten Morgen entscheiden die Börsen, ob sie das ausreichend finden. Wenn nicht, fordern sie Nachbesserungen. In der Regel liefert die Politik, weil sonst die Finanzindustrie den Staaten den Geldhahn zudreht. Man kann sich über diesen Mechanismus aufregen. Hedgefonds haben kein politisches Mandat. Niemand hat sie gewählt. Allerdings fühlen sie sich ihren Kunden verpflichtet; Pensionsfonds zum Beispiel, die durch zu hohe Staatsschulden Sicherheit und Rentabilität der ihnen anvertrauten Renten aufs Spiel gesetzt sehen. Manche, die eine Verschiebung der Macht zur Finanzindustrie beklagen, handeln scheinheilig. Gegen solide Staaten wird ein Hedgefonds kaum wetten. Das führt zum Kern: Falls Merkel, Sarkozy und den solideren Nordländern die Euro-Operation gelingt, entzieht dies der Spekulation den Boden. Merkel und Co. wollen nicht Europa kapern, sondern die Politik wieder in ihr Recht setzen. Dies kann aber nur gelingen, wenn Europa keine Schuldenunion wird. Ein stabiler Euro, abgesichert über strenge Spielregeln, die für alle gelten und über die Brüssel wacht: Das ist das Ziel der Koalition der Retter. Wird es erreicht, kann man auch über eine Art gegenseitiger Haftpflicht reden, also auch über Eurobonds. Fazit: Der Preis für die Euro-Rettung ist: Mehr Brüssel und weniger Berlin, Paris, Rom, usw. Europa geht, weniger aus politischem Antrieb, mehr unter dem Druck der Finanzmärkte, einen Schritt in Richtung Vereinigte Staaten von Europa. Falls diese riskante Operation nicht doch scheitert.

Quelle: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (ots)

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