Berliner Morgenpost: Europas einzige zweitklassige Hauptstadt
Archivmeldung vom 03.05.2010
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittHertha BSC kehrt dorthin zurück, wo der Klub 13 Jahre nicht mehr war: in die Zweite Liga. Ob das einen Anhänger schmerzt? Sicherlich. Ob das für ihn der Weltuntergang ist? Sicherlich nicht. Ich bin Hertha-Fan geworden, als es dem Klub noch sehr viel schlechter ging als jetzt. Festgemauert in der Erde der Zweiten Liga, die Fanszene war als durch und durch prollig verschrien und wurde dem rechten Lager zugeordnet.
Hertha war igitt. Und Hertha war trist. Es gab Spiele, da verliefen sich in die genauso riesige wie marode Betonschüssel Olympiastadion so wenige Zuschauer, dass eine La Ola nur möglich gewesen wäre, wenn sich alle Besucher in dieselbe Reihe gesetzt hätten. Kurzum: Wer in den Achtzigern in West-Berlin aufwuchs, war für Bayern, für Bremen, vielleicht für Hamburg. Dann stieg Hertha auf. Hertha wurde groß. Hertha wurde erfolgreich: Sie spielten in der Champions League, der Staat sanierte unser WM-Stadion, und ein einzelner Spieler kostete mehr als fünf Jahre zuvor noch die ganze Mannschaft. Schön? Sicher. Schattenseiten? Auch. Wir konnten nicht mehr eine Viertelstunde vor Anpfiff am Stadion parken, und es gab nummerierte Sitzplätze. Ich musste mit Zehntausenden teilen, was mir vorher quasi allein gehörte. Ich fühlte mich wie jene, die auf Stadionkonzerten jedem zwanghaft erzählen, dass sie die Band ja schon vor Jahren im kleinsten Klub der Stadt gesehen hätten. Aber das war es wert. Hertha war nun der Hauptact, aber dennoch nie emotional so aufgeladen wie etwa Schalke oder Dortmund. Ausverkauft war das oft stimmungsarme Stadion selten, nie litt oder fieberte die ganze Stadt mit. Während Berlin sich zu einer internationalen Metropole wandelte, stagnierte Hertha in der Außenwahrnehmung. Ob der Klub etwas dafür kann? Zumindest ist der Vorwurf, er hätte das neue Berlin verschlafen, lächerlich. Wie hätte er es mitnehmen können? Bis zu 250.000 Menschen ziehen jährlich nach Berlin oder weg. Die Leute mögen zwar ihren Partner verlassen, ihren Klub aber nicht. Und so bringen die Zugezogenen ihre Vereinsliebe mit. Es gibt für jeden Klub dieses Landes eine eigene Kneipe, keine Auswärtskurve ist so gut gefüllt wie die in der Hauptstadt. Deutschland wird in der kommenden Saison als einziges europäisches Land keinen Hauptstadtklub in der Ersten Liga haben. Das schwache Management, die schlecht zusammengestellte Mannschaft und der sich am Ende nur noch selbst vermarktende Trainer riskieren mit ihrem Versagen viel: Unter Berliner Kindern ist es im Gegensatz zu meiner Jugend in Ordnung, Hertha-Anhänger zu sein. Es wäre fahrlässig, verlöre der Klub auch diese Fangeneration und damit die große Chance auf eine höhere Identifikation mit und in seiner Stadt. Umso erstaunlicher ist, dass sich derzeit keinerlei personelle Konsequenzen abzeichnen. Der Präsident bleibt, der Manager bleibt, der Trainer will bleiben. Dies kann nicht die Reaktion auf den größten Unfall der jüngeren Vereinsgeschichte sein. Denn im Ernst: Die Ein-Reihen-La-Ola wünscht sich niemand zurück.
Quelle: Berliner Morgenpost