Rheinische Post: Deutschland driftet nach links
Archivmeldung vom 28.01.2008
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 28.01.2008 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittWas für ein Wahlabend! Ein erster Erklärungsversuch in fünf Thesen. Erste These: Deutschland driftet nach links. Der wahre Gewinner der Wahlen heißt Oskar Lafontaine. Wir werden uns dauerhaft auf Fünf-Parteien-Parlamente einstellen müssen. Die Linkspartei wird gesellschaftsfähig.
In einer Zeit, in der Banken und Manager vieles tun, ihre Leitfunktion zu zerstören, findet der begnadete Demagoge Lafontaine mit seiner Beschwörung der angeblich besseren Vergangenheit einen positiven Resonanzboden. Die anderen Parteien tragen dazu bei, die Linkspartei hoffähig, möglicherweise auch bald im Westen koalitionsfähig zu machen. Die SPD hat viele der Lafontainschen Positionen übernommen, ob beim Mindestlohn oder bei der Aufweichung von Hartz IV. Für die Grünen gehört der etatistische Politikansatz ohnehin zum genetischen Code. Die Union hat außerhalb von Sonntagsreden noch keine einheitliche Strategie gegen die linken Verheißungen entwickelt. Vielmehr gibt es auch aus ihren Reihen die Rufe nach einer Generalrevision der Arbeitsmarktreformen, wird bei einzelnen Führungsfiguren ein schwammiges Verhältnis zum Leistungsgedanken offensichtlich, der eben auch Teil der sozialen Marktwirtschaft ist. In komplizierten Zeiten ist die Sehnsucht nach einfachen Antworten groß. Bis zur Bundestagswahl 2009 wird es eine Renaissance des Sozialen geben, einen Überbietungswettbewerb im Versprechen von Wohltaten.
Zweite These: Wir haben in Hessen und Niedersachsen typische Regionalwahlen erlebt. Roland Koch und die hessische CDU haben ihr Debakel zu weiten Teilen selbst verursacht, besonders durch ihre in der bundesweiten Debatte zu wenig beachtete verkorkste Bildungspolitik. Die Debatte um das Turbo-Abitur in zwölf Jahren und unerfüllte Versprechen für Schulen und Hochschulen war laut Umfragen ein entscheidendes Motiv für die Wahlentscheidung eines Viertels der Hessen. In Niedersachsen dagegen legte Wulff eine solide Bilanz vor: Wenig versprochen, kein Wort gebrochen.
Dritte These: Wir haben in Hessen mehr als eine Regionalwahl erlebt. Hessen war immer ein "knappes Land". Kochs Ausnahme-Ergebnis von 2003 war nicht zu wiederholen. Mit ihm stellte sich in Hessen der letzte ausgewiesene konservative Unionspolitiker zur Wahl. Hier lag der Grund für die geballte Attacke der Linken. Sie inszenierte erfolgreich einen Kulturkampf gegen Koch. Zudem verfing der Mindestlohnwahlkampf der SPD als eine Kampagne, die einer auseinanderdriftenden Gesellschaft Harmonie versprach im Gegensatz dazu wurde Kochs Feldzug gegen die Jugendkriminalität von Ausländern als spalterisch empfunden. Dass Reden und Handeln Kochs auf diesem Feld nicht immer deckungsgleich waren, lenkte zusätzlich Wasser auf die Mühlen derer, die Koch mangelnde Glaubwürdigkeit vorhalten.
Vierte These: Angela Merkel ist gestärkt und geschwächt zugleich. Die Kanzlerin kann aus dem Wahlsieg Wulffs ableiten, dass dessen moderierender Regierungsstil vom Wahlvolk geschätzt wird und damit auch ihre Art, die Bundes-CDU und die Bundesregierung zu führen. Allerdings wird der konservative Flügel ihrer Partei durch die Art und Weise, wie sie Koch nur halbherzig unterstützte, in seiner Kritik an Merkel bestärkt. Und ihr alter Widersacher Koch ist als angeschossener, aber noch nicht erlegter Löwe besonders gefährlich.
Fünfte These: SPD-Chef Kurt Beck ist gestärkt und geschwächt zugleich. Beck wertet das hessische Ergebnis als Bestätigung seines Linkskurses auf Bundesebene, Niedersachsen als Betriebsunfall der Marke "schwacher Kandidat gegen starken Amtsinhaber". Doch die SPD erlebt auch das Erstarken der Linkspartei im Westen Fleisch von ihrem Fleische. Nun steht Beck vor der Frage, seine Glaubwürdigkeit durch Bündnisse mit der Linken zu verlieren oder aber auf längere Sicht mit der SPD nicht mehrheitsfähig zu sein. Die Zahl seiner strategischen Optionen ist begrenzt. Er kann zudem aus dem von Sondereffekten geprägten Ergebnis im einst immer "roten" Hessen noch keine dauerhafte Morgenröte seiner Partei ableiten. Beck bleibt ein Getriebener, kein Antreiber.
Quelle: Rheinische Post (von Sven Gösmann)