Westdeutsche Zeitung: Abschied aus dem Solidarsystem
Archivmeldung vom 23.07.2010
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittWillkommen im Sommerloch 2010! Eins muss man Marco Wanderwitz lassen: Der junge CDU-Politiker weiß, wie man in nachrichtenarmer Zeit auf sich aufmerksam macht. Dabei ist die Idee, dass Menschen, die gesundheitlichen Risikogruppen angehören oder besondere gesundheitliche Risiken eingehen, mehr für ihre Krankenversicherung zahlen sollen, nicht einmal neu. Sie wird aber durch ständiges Wiederholen - sei es auch in Variationen - nicht besser.
Denn ihre Umsetzung ist schwierig: Ab welcher Kleidergröße beispielsweise soll der Risikozuschlag greifen? Und was ist mit den Menschen, die für ihr Übergewicht gar nichts können, weil es krankheitsbedingt ist? Sollen sie etwa auch mehr zahlen? Die Debatte birgt darüber hinaus die große Gefahr, dass es mit den Übergewichtigen zwar anfängt, wegen abschmelzender finanzieller Polster der Krankenversicherung aber nicht aufhört. Wer sich anschaut, was die Gentechnik heute schon ermöglicht, den lassen Zukunftsszenarien erschaudern: Dann könnten künftig auch Frauen einen höheren Krankenkassenbeitrag zahlen, die eine familiär bedingte Veranlagung zum Brustkrebs haben. Wenn sie denn überhaupt noch versichert werden. Gesundheit wäre dann das, was es wirklich nicht sein sollte: ein Luxus für die, die es sich leisten können. Die Diskussion führt aber auch deshalb in die Irre, weil sie von den wirklichen Problemen des Gesundheitssystems ablenkt. Denn die eigentlichen Einsparpotenziale sind an anderer Stelle zu finden, beispielsweise bei den Medikamenten, der Überbürokratisierung im Gesundheitswesen oder unnötigen Doppeluntersuchungen. Über Dicke zu reden ist für Politiker aber einfacher, als sich mit komplizierten Finanzierungsregeln zu befassen. Das heißt natürlich nicht, dass die Versicherten keine Verantwortung für ein Funktionieren des Systems haben. Natürlich ist es zu begrüßen, wenn sich Menschen gesund ernähren, Sport treiben oder Vorsorgeuntersuchungen wahrnehmen. Wer dies fördern möchte, sollte aber nicht mit dem Finger auf einzelne Gruppen zeigen, sondern neue Anreizsysteme schaffen oder bestehende ausbauen. Das allerdings ist dann kein Thema mehr, mit dem man ein Sommerloch füllen kann.
Quelle: Westdeutsche Zeitung