Westfalen-Blatt: zu Libyen
Archivmeldung vom 01.11.2011
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittDer Nachgeschmack ist bitter. Da rettet die Nato die Rebellen im libyschen Misrata in letzter Minute vor einem blutigen Massaker, bombt ihnen anschließend den Weg frei nach Tripolis für den Sturz des Despoten und dann diese ernüchternde Nachricht: Das neue Regime erhebt das islamische Gesetz, die Scharia, zur Grundlage des gesamten Rechts im neuen Libyen. Und damit alle es verstehen, erklärt Mustafa Abdul Dschalil, der fromme und bescheiden auftretende Vorsitzende des Übergangsrates, dass alle anderen Gesetze, die mit der Scharia nicht übereinstimmen, ungültig seien, mithin auch die Ehegesetze, so dass jeder Mann in Libyen künftig vier Frauen haben dürfe.
Und wenn er dreimal hintereinander zu einer seiner Frauen sagt: »Ich verstoße dich«, dann ist er geschieden. Die Frau hat diese Freiheit nicht. Die Scharia ist kein Gesetz für gleiche, freie Menschen. Kann die Nato, die gegründet wurde, um die Freiheit zu verteidigen, und die auch in Libyen unter diesem Vorzeichen antrat, jetzt sagen: Mission erfüllt?
Das neue Libyen unter Dschalil, der übrigens vier Jahre lang Gaddafis Justizminister war und etliche Todesurteile unterschrieben hat, wird auch das islamische Banksystem einführen und neue Verbündete suchen. Eine Verbrüderung mit den Moslembrüdern in Ägypten ist nur eine Frage der Zeit. Auch in Tunesien haben die islamistischen Kräfte nach den Wahlen Oberwasser. Auch dort droht die Scharia. Und keinen Zweifel gibt es, dass auch in Syrien, Jemen, Jordanien und am Golf die Islamisten ihr Gesetz dem Volk aufzwingen würden, wenn sie könnten.
Die Arabellion ist in ihrer zweiten Phase. Nach dem klassischen Muster großer Revolutionen, wie etwa Frankreich oder Russland sie erlebten, kommt nach dem Sturz des feudalen oder diktatorischen alten Regimes die Despotie der reinen Lehre, nicht selten begleitet vom Terror. Es sei denn, die Ideologen passen sich, geleitet von pragmatischer Vernunft, der Wirklichkeit der Menschen an. Das wird noch abzuwarten sein in Nordafrika. Sicher aber ist: Für die Scharia sind die jungen Leute nicht auf die Straße gegangen, haben sie sich nicht verprügeln und foltern lassen. Sie wollten Freiheit, nicht das Zwangssystem mit seinen drakonischen Strafen. Die jungen Menschen mit ihren Handys und Smartphones haben eine andere Zukunft im Kopf als das Mittelalter. Da ist das letzte revolutionäre Wort noch nicht gesprochen.
Übrigens, was die Nato angeht: Es waren nur die Politiker, die da so laut von Freiheit geredet haben, um den Einsatz zu rechtfertigen. Wir haben es natürlich geglaubt. Aber es sind dieselben Politiker, die auch Geschäfte mit Saudi-Arabien oder den Golfstaaten machen, wo die Freiheit vielleicht weniger bizarr unterdrückt wird als es unter Gaddafi der Fall war. Steinigen und auspeitschen gemäß der Scharia gehören indes auch hier zum Alltag. Man sieht nur nicht hin. So wird es auch mit Libyen sein, Hauptsache der Ölpreis stimmt.
Quelle: Westfalen-Blatt (ots)