WAZ: Wenn die Überwachung zunimmt: Zwischen Freiheit und Sicherheit
Archivmeldung vom 28.08.2006
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittWenn im größten Medium der Welt, auf Myspace.com, 100 Millionen jüngerer Menschen auf diesem globalen Internet-Schulhof Banales und Intimes dem Rest des Universums in Bild und Text mitteilen, was ist denen dann noch die Privatsphäre wert?
Desgleichen, wenn immer mehr Menschen in Internet-Kaufhäusern und
Flohmärkten nahezu bedenkenlos ihre Daten dem großen Ganzen verfügbar
machen. Oder Kundenkarten nutzen, weil man dafür Rabatt bekommt oder
das auf persönliche Bedürfnisse zugeschnittene Angebot.
Internet und Konsum haben einen Wertewandel ausgelöst. Vor 20
Jahren gingen tausende von Menschen gegen die Volkszählung auf die
Straße, weil sie fürchteten, wenn sie 30 Fragen nach ihren
Lebensumständen beantworteten, werde der "Überwachungsstaat"
ausbrechen. Das Bundesverfassungsgericht schrieb das Recht des
Einzelnen auf informationelle Selbstbestimmung fest. 20 Jahre danach
machen die Leute von ihrem Recht Gebrauch, allerdings immer mehr
nicht durch Diskretion, sondern durch Indiskretion.
Dann kam der Terror. Inzwischen müssen wir befürchten, dass er
sich in unserer Nachbarschaft abspielt. Wahrscheinlich sind
Wertewandel plus terroristische Bedrohung die Gründe dafür, weshalb
heute kaum noch jemand etwas gegen die Ausweitung der Überwachung
einzuwenden hat. Nach jahrelangem Streit werden die Innenminister nun
eine Anti-Terror-Datei einrichten; sie werden die Ausweitung der
Video-Überwachung auf öffentlichen Plätzen, die ohnehin vielfach
schon Normalität ist, beschließen. Infratest hat für den "Spiegel"
ermittelt, dass 82 Prozent der Bevölkerung dafür sind. Die Menschen
haben sich daran gewöhnt, in irgendeiner Form öffentliche Existenz zu
sein, und nun kommt die Furcht hinzu, Gewaltopfer zu werden.
Leidet unsere Freiheit, wenn Sicherheit jetzt und wohl auch in
den nächsten Jahren Konjunktur hat? Oder ist es vielmehr so, dass der
Zugewinn an Sicherheit die Freiheit vergrößert, ja: erst möglich
macht? Wenn wir am Flughafen länger warten und vielleicht demnächst
ohne Handgepäck fliegen, beschränkt das dann unsere Freiheit? Oder
ist das nicht vielmehr die Bedingung der Möglichkeit von Freiheit?
Was das ist, Freiheit und Sicherheit, steht nicht in Stein
gemeißelt. Was wir darunter verstehen, unterliegt einem Wandel. Im
Volk wächst jedenfalls die Nachfrage nach Sicherheit. Die Politik
wird uns, ihren Kunden, um unserer Freiheit willen ein überzeugendes
Angebot machen müssen.
Quelle: Pressemitteilung Westdeutsche Allgemeine Zeitung