Wie kann man die Armut besiegen?
Archivmeldung vom 19.05.2005
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Freigeschaltet durch Michael DahlkeDie Geschichte der Armut, und wie man erreichen kann, dass Armut Geschichte wird. Ein Beitrag von ZNet
Die Titelgeschichte des Time Magazine vom 14. März 2005 lautete: ‘Wie man die Armut besiegen kann.’ (‘How to end poverty‘). Sie bezog sich auf ein Essay von Jeffrey Sachs mit dem Titel: ‘The End of Poverty’. Das Buch, dem es entnommen ist, trägt den gleichen Titel. Fotos in dem Artikel zeigen heimatlose Kinder, Müllhaldenmenschen, Heroinabhängige. Auf diesen Bildern sind die Überflüssigen abgebildet, Menschen, die ihres Lebens, ihrer Existenzgrundlage, ihrer Ressourcen beraubt sind - durch jenen brutalen, ungerechten Ausgrenzungsprozess, der die Mehrheit in Armut stößt und nur einigen Wenigen Wohlstand bringt. Müll ist der Abfall der Wegwerfgesellschaft. Ökologische Gesellschaften kennen keinen Müll. Heimatlose Kinder sind eine Folge der Armut - der Verarmung von Gemeinden und Familien, die ihre Existenz und ihre Ressourcen verlieren. Es sind Bilder der Perversion, Bilder, über die externen Effekte eines Wirtschaftswachstumsmodells, das unnachhaltig, unbillig und ungerecht ist. In meinem Buch ‘Staying Alive: Women, Ecology and Development’ (von 1988 - Anmerkung d. Übersetzerin*) beziehe ich mich u.a. auf das Buch eines afrikanischen Autors: ‘Poverty: the Wealth of the People’. Darin beschreibt der Autor den Unterschied zwischen Subsistenzarmut und Elend infolge von Mangel. Es ist sinnvoll, eine Trennlinie zu ziehen zwischen der einfachen Subsistenz-Lebensweise - die von der Kultur als Armut aufgefasst wird -, und materieller Armut infolge von Enteignung und Deprivation. Was kulturell als Armut wahrgenommen wird, muss in Wirklichkeit nicht Armut im materiellen Sinne bedeuten - siehe die Subsistenzwirtschaft, die Grundbedürfnisse durch Selbstversorgung befriedigt. Solche Gesellschaften sind nicht arm im Sinne von Mangel (Deprivation). Die ‘Ideologie der Entwicklung’ erklärt sie wegen ihrer geringen Teilhabe an der Marktwirtschaft jedoch zu armen Gesellschaften. Diese Gesellschaften konsumieren keine Waren, die der Markt erzeugt und unter die Leute bringt. Dennoch befriedigen sie die Bedürfnisse - durch Mechanismen der Selbstversorgung. Menschen, die (von Frauen angebaute) Hirse verzehren - anstatt kommerziell produzierten und in Umlauf gebrachten industriellen Junkfood zu essen -, werden als arm bezeichnet. Vermarktet wird dieser Junkfood durch das globale Agrobusiness. Menschen werden als arm erachtet, nur weil sie in Häusern wohnen, die sie selbst gebaut haben. Das Material, das sie hierzu verwenden, ist natürlich und ahmt die Natur nach - Bambus oder Lehm anstatt Zement. Menschen werden als arm erachtet, weil sie handgefertigte Kleider aus natürlichen Materialien und keine Synthetikklamotten tragen. Subsistenz - als kulturell definierte Armut - ist nicht gleichbedeutend mit geringer (physischer) Lebensqualität, ganz im Gegenteil, die Subsistenzlandwirtschaft hilft dem Haushalt der Natur und leistet einen Beitrag zum sozialen Wirtschaften. Auf diese Weise gewährleistet sie hohe Lebensqualität - siehe das Recht auf Nahrung und Wasser - sie gewährleistet eine nachhaltige Existenz, sie gewährleistet eine robuste soziale und kulturelle Identität und Lebenssinn.
Dem steht die Armut von einer Milliarde Hungernder und einer weiteren Milliarde Fehlernährter, die an Übergewicht leiden, gegenüber. Diese Menschen sind sowohl in kultureller wie materieller Hinsicht verarmt. Ein System, das Krankheiten und Mangel erzeugt, während es andererseits Billionen Dollars an Superprofiten für das Agrobusiness erwirtschaftet, ist ein System, das gleichzeitig menschliche Armut produziert. Armut ist das Endstadium (und keineswegs die Kinderkrankheit) eines ökonomischen Paradigmas, das die Ökosysteme und die sozialen Systeme vernichtet, Systeme, die Leben, Gesundheit und Subsistenz aufrechterhalten - für den Planeten und die Menschen darauf. Aber wirtschaftliche Armut ist nur eine Form der Armut. Daneben existieren weitere Formen, wie kulturelle Verarmung, soziale Verarmung, Verarmung der ethischen Maßstäbe, ökologische Verarmung und spirituelle Verarmung. Diese Formen der Armut sind im so genannten reichen Norden weiter verbreitet als im so genannten armen Süden, und diese andere Armut kann nicht mit Dollars bekämpft werden. Dazu braucht es Empathie und Gerechtigkeit, caring and sharing. Um die Armut zu besiegen, muss man zuvor begreifen, wie sie entsteht. Jeffrey Sachs sieht in ihr die Erbsünde. Er erklärt: “Noch vor wenigen Generationen waren fast alle arm. Die Industrielle Revolution hat zu neuem Wohlstand geführt, ließ jedoch den größten Teil der Welt weit zurück.” Eine völlig verzerrte Sicht auf die Geschichte der Armut. So wird man nie erreichen, dass Armut Geschichte wird. Jeffrey Sachs irrt. Die Armen wurden nicht zurückgelassen. Sie wurden über den Rand gedrängt. Man hat ihnen den Zugang zu ihren eigenen Ressourcen verwehrt, zu ihren eigenen Reichtümern. Die “Armen sind nicht arm, weil sie faul sind oder ihre Regierungen korrupt”, vielmehr, weil andere sich ihrer Reichtümer bemächtigten, weil andere ihnen die Möglichkeit nahmen, Reichtum zu produzieren. Der Reichtum, der sich in Europa anhäufte, basierte auf dem Reichtum Afrikas, Asiens oder Lateinamerikas, den man sich aneignete. Ohne die Zerschlagung der reichen indischen Textilindustrie, ohne die Übernahme des Gewürzhandels, ohne den Völkermord an den indigenen Stämmen Amerikas bzw. die Sklaverei in Afrika hätte die Industrielle Revolution keine neuen Reichtümer für Europa und die USA schaffen können. Die gewaltsame Übernahme der Ressourcen und Märkte der Dritten Welt hat den Wohlstand des Nordens geschaffen - und simultan die Armut des Südens. Zwei Wirtschaftsmythen sind schuld, dass wir zwei Prozesse getrennt sehen, die doch eigentlich eng verbunden sind: zunehmender Reichtum einerseits und zunehmende Armut andererseits. Der erste Mythos lautet: Nur Kapitalzuwächse bedeuten Wachstum. Dabei wird übersehen, dass derlei Wachstum zerstörerisch in den Haushalt der Natur und in die menschliche Subsistenzwirtschaft eingreift. Wachstum zeitigt zwei sogenannte ‘externe Effekte’, die jeweils simultan auftreten: Umweltzerstörung und Armut. Beides (Umweltzerstörung und Armut) wird zwar irgendwie in Verbindung gebracht, allerdings ohne beides mit den Wachstumsprozessen in Verbindung zu setzen. Man sagt, Armut erzeuge Umweltzerstörung, und verschreibt die Krankheit als Arznei: Mit Wachstum sei das Armutsproblem lösbar und gleichzeitig das Umweltproblem, denn dieses sei in erster Linie eine Folge der Armut. So lautet auch die Botschaft in Jeffrey Sachs Analyse. Der zweite Mythos, der verhindert, dass Reichtum und Armut in Relation gesetzt werden, beruht auf der Annahme, dass wer nur produziert, was er verbraucht, kein Produzent sei. Diese Annahme dient als Grundlage des Produktionsindexes zur Bemessung der nationalen Bruttosozialprodukte, an denen das Wirtschaftswachstum gemessen wird.
Beide Mythen führen zur Verklärung von Wachstum und Konsum und zur Ausblendung des eigentlichen Prozesses, der sich abspielt, wenn Armut entsteht. Erstens, der kapitalorientierte Markt ist nicht das einzige Wirtschaftssystem. Dennoch wird Entwicklung am Wachsen der Marktwirtschaft festgemacht. Die Kosten dieser Entwicklung, die ausgeblendet werden, sind die Zerstörung der beiden anderen Wirtschaftssysteme. Das erste System ist der Haushalt der Natur, das zweite das Überleben der Menschen. Dass diese beiden lebenswichtigen Ökonomie-Formen vernachlässigt bzw. ignoriert werden, hat die Gefahr der ökologischen Vernichtung und der Gefährdung des Überlebens der Menschen durch Wachstum heraufbeschworen. Beide Gefährdungen gelten noch immer als “verborgene, negative, externe Effekte” der Entwicklungsprozesse. Man spricht nicht von Ausgrenzungsfolgen vielmehr von “jenen (Menschen), die zurückgelassen wurden” und betrachtet diese Menschen auch nicht als jene, die die Hauptlast eines ungerechten Wachstums zu tragen haben - in Form von Armut - vielmehr stellt man es fälschlicherweise so dar, als seien diese Menschen nur zuwenig am Wachstumsprozess beteiligt. Es ist falsch, zwischen einem Prozess, der Überfluss erzeugt und einem, der Armut erzeugt zu unterscheiden. Diese Trennung ist Kernstück von Jeffrey Sachs Analyse. Seine Rezeptur würde die Armut nur verschlimmern - anstatt sie zu heilen.
Handel sowie der Austausch von Waren und Dienstleistungen gab es zu allen Zeiten, in jeder Gesellschaft. Allerdings hatten diese Dinge früher dem Haushalt der Natur und dem Wirtschaften der Menschen unterstanden. Mittlerweile wurden die Domäne des Marktes und das von Menschen erzeugte Kapital zum höchsten Organisationsprinzip der Gesellschaft erklärt. Das hat zur Vernachlässigung und Zerstörung der beiden anderen Organisationsprinzipien geführt: Ökologie und Überleben. Dabei sind es gerade diese beiden Prinzipien, die das Leben sichern - in der Natur, in der Gesellschaft. Die moderne Wirtschaft und die modernen Entwicklungskonzepte sind, historisch gesehen, nur eine Marginalie in der Interaktion Mensch/Natur. Über die Jahrhunderte war das Subsistenz-Prinzip die materielle Grundlage des Überlebens in der menschlichen Gesellschaft. Über die Selbstversorgungsmechanismen rang man der Natur seine Existenz ab. Man respektierte die von der Natur gesetzten Grenzen - die gleichzeitig die Grenzen menschlichen Konsumverhaltens waren. In den meisten Ländern des globalen Südens leben viele Menschen noch immer in einer Survival-Ökonomie. Von der marktorientierten Entwicklung wird diese Form des Wirtschaftens allerdings nicht wahrgenommen. Alle Menschen in allen Gesellschaften dieser Erde hängen für ihr Überleben vom Haushalt der Natur ab. Wo das Ordnungsprinzip, das in einer Gesellschaft das Verhältnis Mensch/Natur regelt, Nachhaltigkeit ist, wird Natur zur Allmende, zum Gemeingut. Wo allerdings Profit und Akkumulation zum gesellschaftlichen Ordnungsprinzip erhoben werden, wird die Natur zur Ressource. Und die Ausbeutung von Ressourcen für den Markt ist in solchen Gesellschaften obligatorisch. Ohne sauberes Wasser, fruchtbare Böden, ohne genetische Vielfalt bei Wild- und Feldpflanzen kann die Menschheit nicht überleben. Die wirtschaftliche Entwicklung zerstört das Gemeingut. Daraus ergibt sich ein neuer Widerspruch - nämlich der zwischen der Ökonomie der natürlichen Prozesse und der Survival-Ökonomie. Die Menschen, die durch diese Entwicklung ihrer traditionellen Ländereien und traditionellen Überlebensweise beraubt werden, sehen sich nun gezwungen, ihr Überleben in einer zunehmend zerstörten Umwelt zu suchen.
Menschen sterben nicht daran, dass sie zuwenig verdienen, Menschen sterben, weil sie keinen Zugang zu Ressourcen haben. Auch in diesem Punkt irrt Jeffrey Sachs, wenn er sagt: “In dieser reichen Welt sind 1 Milliarde Menschen so arm, dass ihr Leben in Gefahr ist”. Die indigenen Populationen des Amazonas, die Bergdorfgemeinden des Himalaya und jene Bauern, deren Land von niemandem einverleibt wurde, deren Wasserqualität stimmt, deren Biodiversität nicht der industriellen Landwirtschaft zum Opfer fiel, die, die sich nicht verschulden mussten, all diese Menschen sind reich - im ökologischen Sinne - obwohl sie nicht einen Dollar am Tag verdienen. Umgekehrt kann ein Mensch mit 5 Dollar am Tag arm dran sein, nämlich in einer Umgebung, in der er für die Güter der Grundversorgung teuer bezahlen muss. Die indischen Bauern, die in den vergangenen zehn Jahren in Armut und Verschuldung getrieben wurden, damit - mit Hilfe der ökonomischen Globalisierung - ein Markt für teures Saatgut und für die Agrarchemie geschaffen werden konnte, begehen nun zu Tausenden Selbstmord. Wenn ein Patent auf Saatgut erhoben und die Bauern 1 Billion Dollar Schutzgebühren aufbringen müssen, sind diese Bauern um 1 Billion ärmer. Patente auf Medikamente führen dazu, dass ein Medikament gegen Aids statt $200 $20 000 kostet und ein Krebsmedikament, das eigentlich $2,400 pro Jahresbehandlung kosten würde, plötzlich $36 000. Wenn Wasser privatisiert wird und globale Konzerne mit der Ware Wasser Gewinne von $1 Billion herausschlagen, werden die Armen um diese Billion ärmer.
Die Bewegungen gegen die Wirtschaftsglobalisierung und gegen Fehlentwicklungen sind gleichzeitig Antiarmutsbewegungen, denn sie setzen sich für ein Ende der Ausgrenzung ein, sie setzen sich gegen die Ungerechtigkeit und den Mangel an Nachhaltigkeit ein - den Wurzeln der Armut. Jene $50 Milliarden, die der globale Norden dem globalen Süden an “Hilfen” zukommen lässt, sind nur ein Zehntel des Kapitalflusses, in Höhe von $500 Milliarden, der von Süd nach Nord verläuft - in Form von Schuldenrückzahlungen und anderen ungerechten Mechanismen (als Teil der globalen Ökonomie), die vom Internationalen Währungsfonds und der Weltbank verhängt werden. Die Privatisierung lebenswichtiger Dienstleistungen sowie die unfaire Globalisierung durch die WTO machen die Armen ärmer. Allein durch gesunkene Preise in der Landwirtschaft gehen den indischen Bauern jährlich $26 Milliarden verloren - eine Folge des Dumpings und der Handelsliberalisierung. Dies sind Folgen einer unfairen, ungerechten Globalisierung, die zum Takeover von Nahrung und Wasser durch Konzerne führt. Allein für Nahrung und Wasser wird man den Armen in Zukunft mehr als $5 Billionen abnehmen und das Geld dann in die reichen Länder transferieren. Die Armen finanzieren die Reichen. Wenn es uns wirklich ernst ist, die Armut zu bekämpfen, müssen wir uns ernsthaft daran machen, jene ungerechten und brutalen Systeme der Reichtumserzeugung zu beenden. Denn sie erzeugen Armut, indem sie die Armen ihrer Ressourcen, ihrer Existenz, ihres Einkommens berauben. Diese “Nehmen” ignoriert Jeffrey Sachs nur all zu gern. Lieber schreibt er über das “Geben” - das allerdings nur 0,1% dessen ausmacht, was der Norden sich “nimmt”. Will man die Armut beenden, geht es darum, dass weniger genommen wird - und nicht sosehr darum, ein wenig mehr zu geben. Wer will, dass Armut Geschichte wird, muss die Geschichte der Armut richtig verstehen - und Jeffrey Sachs befindet sich völlig auf dem Holzweg.
Quelle: http://www.zmag.de/artikel.php?id=1425&PHPSESSID=96399268ef5ef2b0e34104ad7b2a9d86