WAZ: Was Sonntag wird, das bleibt
Archivmeldung vom 28.06.2008
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 28.06.2008 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittParty? Ist Party etwa schlecht? Die Deutschen wollten halt vor allem feiern, wird jenen herablassend entgegengehalten, die hinter dem ausgelassenen, kollektiven Fußball-Gejubel mehr vermuten als die Bereitschaft zu öffentlicher Ausgelassenheit. Was solche Nörgler ausblenden, ist: Auch Feiern ist eine bewusste Entscheidung. Das gilt erst recht für dessen öffentliche, ausgelassene Spielart.
Und es zählt noch mehr, wenn dabei die Regeln herkömmlicher Kleiderordnung verlassen werden und eigentlich doch ganz normale Menschen, Anwältinnen, Frisöre und IT-Techniker, mit der aufgeschminkten deutschen Fahne auf den Wangen herumlaufen oder -toben. Öffentliches Feiern ist ein Statement, mehr noch: eine Demonstration.
Wofür? Für das Recht auf Emotionalität. Für die Lust an der
Gemeinsamkeit. Für die Freude an der deutschen Hymne, der deutschen
Fahne, dem deutschen Tor.
Das Recht auf öffentlich ausgelebte Emotionalität ist keine
Selbstverständlichkeit. Es muss(te) durchgesetzt werden gegen jene,
die in kopfgesteuerter Beherrschtheit die höchste Form zivilisierter
Existenz sehen. Die Lust an der Gemeinsamkeit ist ein Dementi:
Zurückgewiesen wird damit die bislang unkritisch geglaubte These, die
Deutschen entwickelten sich zu einem Volk aus lauter Einzelgängern.
Wenn es diese Individualisierung tatsächlich gibt, dann ist die
Fanmeile beim Public Viewing der Wunsch, vielleicht die Sehnsucht
oder einfach auch nur die Tatsache des Gegenteils davon.
Jeder sucht sich selbst und entdeckt dabei den Anderen; und freut
sich daran. Und die Freude dieser 20-, 30- und 40-Jährigen an den
deutschen Farben ist tatsächlich nichts weniger als ein
Schluss-Strich.
Nicht unter die schreckliche deutsche Zeit. Aber unter eine - Ära
wäre zu viel, Periode vielleicht - Zeit jedenfalls der deutschen
Selbstvergessenheit, bisweilen sogar des lustvollen Selbsthasses.
Diese Zeit verbindet sich besonders mit der Chiffre 68, und darum ist
es gewiss kein Zufall, wenn man so wenige Menschen in diesem Alter
sieht, die Schwarz-Rot-Gold schwenken.
Alles, was einmal war, bleibt. Nichts wird vergessen. Also auch
nicht diese Party. Sie ist viel mehr als bloßes Feiern: eine
Demonstration für das Recht darauf. Diese Party ist das Zeichen einer
neuen Zeit. Eine Epoche, in der eine neue Generation für
jedermann sichtbar offenbart, dass es nicht nur eine Last, sondern
auch eine Freude sein kann, sich selbst, seiner nationalen Herkunft
gewiss, eine multikulturelle, globalisierte Existenz zu leben.
Quelle: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (von Ulrich Reitz)